Autokraten versprechen mehr Effizienz durch weniger Demokratie. Deren Feindbilder haben sich in jüngster Zeit geändert. In Autokratien sind unabhängige Gerichte, Medien und die Zivilgesellschaft bedroht.
Die Wahl in der Türkei hat es einmal mehr gezeigt: viele Menschen wünschen sich in der Politik einen "starken Mann". Auch die Beispiele von Ungarn, Polen oder Indien machen es deutlich: Demokratien können sich immer weiter in Richtung Autokratie entwickeln. Doch wie genau laufen solche Prozesse ab, woher stammt das Bedürfnis vieler Menschen danach und warum wird dieses durch innere Krisen nicht erschüttert?
Zentral für die Sehnsucht nach autokratischen Politikmodellen sind vor allem enttäuschte Erwartungen in die Leistungsfähigkeit von Demokratien, sagt Hauke Hartmann von der Bertelsmann Stiftung im Gespräch mit unserer Redaktion.
Hartmann leitet dort das Projekt "Transformationsindex BTI" zu politischen und wirtschaftlichen Wandlungsprozessen in Entwicklungs- und Schwellenländern. Neben diesen enttäuschten Erwartungen berge das hohe Potential für Polarisierungen innerhalb von Gesellschaften und das unbedingte Streben nach Machterhalt der gewählten Regierungen zusätzliche Gefahren für autokratische Entwicklungen, erklärt Hartmann.
Mit einer Suche nach einfachen Antworten in komplexen Krisenzeiten erklärt Julia Reuschenbach von der Freien Universität Berlin dieses Bedürfnis bei vielen Wählern. "Zudem wissen wir, dass es in allen Gesellschaften in begrenzten Anteilen auch Sympathien für starke Führungspersönlichkeiten gibt. Damit ist der Glaube daran verbunden, dass jemand vermeintlich die Dinge in die Hand nimmt und sie im Sinne der Bevölkerung regelt."
Autokraten wollen vermeintliches "Volkswissen" gegen die "Eliten" durchsetzen
Autokraten wollen den sogenannten "wahren Volkswillen" gegen eine aus ihrer Sicht "korrupte Klüngelherrschaft" durchsetzen, sagt Hartmann. Autokratische Regierungen drehen somit das demokratische Versprechen um. Sie versprechen höhere Effizienz nicht durch mehr, sondern durch weniger Demokratie.
Und dies falle oftmals auf fruchtbaren Boden: "Nach Jahren und Jahrzehnten elitärer Statussicherung und Misswirtschaft in vielen Ländern gibt es ein ungeduldiges Bedürfnis nach guter Regierungsführung und funktionierender Demokratie," erklärt der Experte der Bertelsmann Stiftung. Der Vorwurf an "die da oben" lautet dann: Die Regierungen sind nur am eigenen Statuserhalt orientiert und dienten nicht dem Gemeinwohl.
Wenn Autokraten dann erstmal an der Macht sind, versuchen sie, das politische System in ihrem Sinne umzubauen. Dabei geht es laut Hartmann um eine gezielte Aushebelung von Kontrollinstanzen. Hierzu zählen zuallererst Gerichte und freie Medien. Auch Organisationen der Zivilgesellschaft sind hiervon bedroht. Weiter geht es dann häufig mit der Manipulation von Wahlen und Veränderungen in den Verfassungen.
Dies alles kommt im Gewand des Legalen daher, verfügen doch diese Regierungen zunächst über eine gewählte Mehrheit in den Parlamenten. "Die Gewaltenteilung und die Garantie der Grundrechte sind dann einer vermeintlich effizienten Regierungsführung untergeordnet", sagt Hartmann.
Autokraten werden in der Regierung selbst zur Elite
Wenn die autokratischen Kräfte dann eine Zeit lang regiert haben, sagt Hartmann, komme es häufig zur Etablierung neuer klientelistischer Strukturen: "So ist beispielsweise in der Türkei und Ungarn der planvolle Ausbau von regierungstreuen Unternehmernetzwerken zu beobachten, die bei Auftragsvergaben und wirtschaftspolitischen Entscheidungen bevorzugt bedacht werden." Mit der Zeit entstehe so ein Glaubwürdigkeitsproblem, weil diese Gruppen dann selbst zu Eliten würden.
Dass die rechtspopulistischen Parteien und Politiker jedoch häufig auch nach Skandalen rund um ihre Parteien oder Führungspersonen nicht langfristig in der Gunst ihrer Sympathisanten abstürzen, liegt hauptsächlich an zwei Gründen, erklärt Julia Reuschenbach von der FU Berlin. "Einerseits können die Parteien in gewissen Umfang Protest und Unmut gegenüber anderen politischen Akteuren auf sich versammeln, andererseits haben sie eine Kernwählerschaft, die wirklich überzeugt von der Partei oder Person ist und sich dabei eben auch von externen Faktoren nicht beeinflussen lässt", sagt die Berliner Politologin.
In der letzten Zeit haben sich neue Feindbilder der Autokraten entwickelt
Und autokratische Akteure haben in der letzten Zeit dazugelernt. "Wir sehen vor allem neue Feindbilder, die nicht mehr nur in linken Parteien bestehen, sondern vor allem in Fürsprechern multilateraler und weltoffener Gesellschaften", erklärt die Politikwissenschaftlerin. Hinzu komme seit einigen Jahren noch eine "Wissenschaftsfeindlichkeit". Besonders in Zeiten der Pandemie sei diese zu beobachten gewesen, sagt Reuschenbach. Auch in der Klimapolitik ist ein solches Vorgehen immer wieder offenkundig.
Häufig werde zudem dann in der Rolle als Regierungspartei die "anti-elitäre Rhetorik zurückgefahren und durch gesteigerte Polarisierung ersetzt", sagt Hartmann von der Bertelsmann Stiftung. Wahlen würden dann stärker als Lagerwahlkämpfe inszeniert. Auch bestehende soziale Spaltungen in den Gesellschaften nutzen die Autokraten für sich aus, erklärt Hartmann. In Indien etwa Hindus gegen Muslime, oder traditionelle konservative Europaskeptiker im ländlichen Raum gegen so betitelte "heimatlose" Kosmopoliten in polnischen und ungarischen Städten.
Expertin: Wandlungsprozesse müssen von demokratischen Akteuren besser erklärt werden
So sehr Demokratien für autokratische Entwicklungen anfällig sind, so sehr tragen sie auch Widerstandskräfte in sich. Hierzu zählen laut Hartmann ein funktionierender Rechtsstaat, Gewaltenteilung und unabhängige Institutionen. Weiterhin sei eine engagierte Zivilgesellschaft wesentlich.
Maßgeblich sei auch ein hohes Maß an politischer Bildung in der Bevölkerung und eine demokratische öffentliche Debattenkultur. Laut Hartmann müsse das demokratische Narrativ gestärkt werden. Denn seine Forschungsergebnisse zeigten eindeutig, "dass Korruption und Misswirtschaft zunehmen, je weniger Regierungen rechenschaftspflichtig sind".
Dass die politische Kommunikation eine entscheidende Rolle spielt, unterstreicht auch Julia Reuschenbach von der TU Berlin. Demokratisch verfasste Gesellschaften seien in den letzten Jahren besonders krisen- und umbruchsgefordert gewesen, sagt Reuschenbach: "Umbrüche müssen deutlich mehr erklärt, transportiert und erläutert werden, als dies in guten und ruhigen Phasen durch Politik notwendig ist. Und wir sehen, dass es daran mangelt, auch derzeit in Deutschland."
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