Ukrainische Kräfte haben Russland im Grenzgebiet Kursk angegriffen. Putin verhängte den Ausnahmezustand und sprach von einer "groß angelegten Provokation". Der Überraschungsangriff lässt Militärexperten rätseln: Warum wagt die Ukraine ausgerechnet jetzt einen solchen Vorstoß? Experte Gustav Gressel sieht mehrere mögliche Szenarien und Motive – doch alle bringen Probleme mit sich.
Die "New York Times" nennt es einen "überraschenden Wendepunkt" im russischen Angriffskrieg: Ukrainischen Kräften ist es Mitte der Woche gelungen, in das russische Grenzgebiet Kursk vorzudringen und dort mehrere Dörfer unter ihre Kontrolle zu bringen. Laut russischen Angaben sollen dabei mehr als 30 Menschen verletzt worden sein.
Generalstabschef Waleri Gerassimow sprach von bis zu 1.000 ukrainischen Soldaten, die unter anderem mit Panzern angegriffen hätten. Unabhängig bestätigen lassen sich diese Angaben nicht. Bilder von zerstörten Häusern aus dem Westen Russlands gingen um die Welt.
Putin spricht von einer "groß angelegten Provokation"
Die ukrainischen Truppen sollen die Grenze vom Gebiet Sumy aus bei Sudscha überquert haben und von dort aus bis zu 15 Kilometer in Richtung des dortigen Atomkraftwerks vorgedrungen sein. Die russischen Behörden verhängten den Ausnahmezustand, auf beiden Seiten der Grenze wurden Menschen evakuiert. Putin nannte den Angriff eine "groß angelegte Provokation".
Militärexperte Gustav Gressel erinnert daran, die Zahlen aus Moskau mit Vorsicht zu behandeln: "Die Angaben stammen aus russischer Hand, die Ukrainer schweigen sich zu der Operation ziemlich aus und sagen nicht, wie hoch der Einsatz an Soldaten und Material wirklich ist." Moskau könnte ein Interesse daran haben, den Kräfteeinsatz der Ukrainer hochzuspielen. Wenn man behaupten könne, von der Gegenseite überwältigt worden zu sein, sei die Schande nicht so groß.
Was bezweckt die Ukraine? Zwei Szenarien sind möglich
Aus Sicht von Gressel gibt es daher zwei Szenarien: Entweder handelte es sich in Wirklichkeit nur um eine kleine Operation mit wenigen Soldaten oder tatsächlich um einen Vorstoß mit schweren Verbänden. Das Gebiet etwa 600 Kilometer südwestlich von Moskau ist Sperrgebiet, in das unabhängige Beobachter keinen Zugang haben.
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"Wenn es eine kleine Operation mit wenig Leuten war, dann ist das ein Stich, der Russland auf dem falschen Fuß erwischt hat. Dann hätten die Russen klar verpeilt, zu reagieren", sagt Gressel. Für möglich hält er das durchaus: Bei den russischen Grenzkräften handele es sich um nur leicht bewaffnete Infanterieeinheiten.
"Das wissen die Ukrainer und stechen genau in die Schwachstelle. Deshalb könnten sie hier durchaus mit wenigen leichten Kräften einen Vorstoß gemacht haben", analysiert Gressel.
Wäre dem so gewesen, sieht der Experte allerdings ein Problem: "Mit wenigen leichten Kräften können die Ukrainer die Gewinne, die sie jetzt gemacht haben, nicht halten." Das sei auch im März so gewesen, als die Ukrainer einen ähnlichen Vorstoß auf russisches Gebiet gemacht hätten. Mitte März hatten ukrainische Drohnen in Russland einen Flugplatz in der Oblast Woronesch sowie drei Ölraffinerien in Rjasan, Kstowo und Kirischi angegriffen.
"Die Russen benötigen nun eine gewisse Zeit, bis sie Reserven heranschaffen", sagt Gressel. Sobald das passiert sei, hätten die leichten Kräfte aber keine Chance mehr – ebenso wie die Grenzschutz-Truppen vorher keine Chance gehabt hätten.
"Dann wäre ein solcher Vorstoß mehr für die Moral passiert, um aufzuzeigen: 'Wir können euch wehtun'." Damit würden die Ukrainer die Russen zwingen, schwere Kräfte zu verlegen und ihnen dadurch Mühe machen. "Einen signifikanten Einfluss auf den Krieg hat das aber nicht", sagt Gressel.
Faustpfand für Verhandlungen
Anders im zweiten Szenario: Sollten auf der ukrainischen Seite substanzielle Kräfte zum Einsatz gekommen sein, wären die Ukrainer aus Sicht von Gressel in der Lage, dieses Gelände auch zu halten. "Bis die Russen Kräfte verlegt haben, können sich die Ukrainer zum Beispiel eingraben und zur Verteidigung einrichten", sagt er.
Das Gelände könnte Kiew später nutzen, um es in Verhandlungen einzutauschen. "Beispielsweise könnte Kiew sagen: 'Wir räumen Kursk, wenn ihr Charkiw räumt'."
Noch seien die Ukrainer mehrere Kilometer vom Atomkraftwerk in Kursk entfernt. Wenn es ihnen aber gelänge, es einzunehmen, hätten sie nach Einschätzung des Experten aber eine "Gegengeisel". Diese könnte Verhandlungsmasse im Zusammenhang mit dem von russischen Truppen besetzten Atomkraftwerk in Saporischschja sein.
Diese Probleme ergeben sich für die Ukraine
Doch Gressel sieht mehrere Probleme: "Wenn die Ukrainer substanzielle Kräfte in den Norden verlegen, um dieses Gebiet wirklich zu halten und als Faustpfand für Verhandlungen zu verwenden, hat das Opportunitätskosten", sagt er. Denn die Kräfte könne die Ukraine nicht gleichzeitig in den Donbass schicken. Dort stehen die ukrainischen Linien seit Wochen unter Druck, es gibt bei den eingesetzten Brigaden akuten Personalmangel.
"Da stellt sich die Frage: Ist es das wert, diese Kräfte, die man im Osten ganz dringend zur Verteidigung braucht, in den Norden zu schicken?" Dieses Problem würde sich verschärfen, wenn man vorhätte, das Gebiet zu halten. Denn man müsse substanzielle Kräfte im Gebiet Kursk lassen, um russische Gegenangriffe abzuwehren. "Das würde die Front noch mal in der Länge ausdehnen. Die Ukrainer haben jetzt schon Probleme, die Front zu halten", erinnert Gressel.
Plant die Ukraine, das Gebiet längerfristig zu halten?
Weitere Zweifel hat der Experte bei der Feuerunterstützung und der Fliegerabwehr. "Der Westen hat Restriktionen erlassen, dass die Ukraine die westlichen Geräte dort nicht einsetzen darf", erinnert er. Und es sei fraglich, ob die Ukraine die Front nur mit sowjetischem Gerät halten könne und für sowjetische oder für eigene Artillerie genug Munition habe: "Da wäre ich sehr skeptisch."
Seiner Einschätzung nach würde ein solcher Vorstoß nur dann Sinn ergeben, wenn Verhandlungen unmittelbar bevorstünden und man das Gelände nicht lange halten muss. Gressel sagt dazu: "Hier stellt sich natürlich die Frage: Ist das so? Stehen Verhandlungen unmittelbar bevor, also substanzielle Verhandlungen um Gebiete, um ein Einfrieren des Konflikts oder einen Waffenstillstand?"
Es gäbe Gerüchte aus Kiew, dass man an solchen Verhandlungen arbeite. "Ich glaube aber nicht, dass das jetzt ein Druckmittel ist, um Putin an den Verhandlungstisch zu bekommen", sagt der Experte.
Über den Gesprächspartner
- Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmäßig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Außenpolitik bei Großmächten.
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Gustav Gressel
- tagesschau.de: Ausnahmezustand im Gebiet Kursk verhängt
- tagesschau.de: Überraschungsangriff mit unklarem Zweck
- Bundeszentrale für politische Bildung: Ukraine - Chronik: 11. bis 31. März 2024
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