• Während die Nato deutlich gemacht hat, dass sie die Ukraine nicht kurzfristig aufnehmen kann, hofft die Bevölkerung des Landes nach wie vor auf Schutz durch die EU.
  • Präsident Wolodymyr Selenskyj appellierte am Montag an die Volksvertreter, sein Land aufzunehmen.
  • Doch die Regeln lassen schnelles Handeln nicht zu.

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Wolodymyr Selenskyj spricht langsam und mit heiserer Stimme, macht effektvolle, lange Pausen. Der ukrainische Präsident kämpft mit Emotionen, als er am Montag per Videoschalte vor dem EU-Parlament spricht. Er denke, sagt er, "dass wir am heutigen Tag unser Leben lassen für die Werte, für die Rechte, für den Wunsch, genauso frei zu sein, wie Sie frei sind."

So frei, meint er damit, wie die Menschen in der Europäischen Union, zu der die Ukraine gerne gehören würde. "Die Ukraine wählt Europa", fährt Selenskyj fort. "Deshalb möchte ich von Ihnen gern hören, dass die ukrainische Wahl für Europa eine gegenseitige Wahl ist."

"Wir kämpfen für unsere Rechte, wir kämpfen für unser Leben. Aber wir kämpfen auch dafür, dass wir gleichberechtigte Mitglieder Europas werden", sagt Selenskyj weiter.


Doch vor der Aufnahme eines neuen Mitglieds in die EU steht ein langer Weg durch die Institutionen, stehen Reformen und deren Überwachung, stehen lange Verhandlungen und viele parlamentarische Abstimmungen. Vielleicht ist Selenskyjs Stimme deshalb so brüchig, vielleicht scheint er deshalb manchmal um Fassung zu ringen, weil er weiß, dass seine Hoffnung auf die Europäische Union womöglich auf absehbare Zeit ein Traum bleiben wird.

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EU-Beitritt der Ukraine? Die Details sind zeitraubend

Artikel 49 des EU-Vertrages regelt die Aufnahme von neuen Mitgliedern in die Union. Jeder Staat, der die Werte der EU achte, heißt es dort, könne Mitglied werden. Das Europaparlament beschließt mit seiner Mehrheit die Aufnahme eines neuen Mitgliedsstaates, gültig wird sie, wenn die nationalen Parlamente aller Mitgliedsstaaten das Abkommen ratifiziert haben.

Das hört sich einfach an, doch die Details sind zeitraubend: Wenn EU-Kommission und Europäischer Rat einverstanden sind, erhält der Bewerberstaat zunächst einen Kandidatenstatus. Dann erst beginnen die eigentlichen Beitrittsverhandlungen. Für diese haben die Mitgliedsstaaten die sogenannten Kopenhagener Kriterien definiert. In ihnen geht es um Menschenrechte, rechtsstaatliche Ordnung und den Schutz von Minderheiten, aber auch um eine funktionierende Marktwirtschaft und nicht zuletzt um die Verpflichtung, das gesamte gemeinschaftliche Recht der Union zu übernehmen.

Das macht eine Menge Arbeit und dauert: 35 Kapitel umfasst das sogenannte "Screening", in dem zunächst analysiert wird, welche Veränderungen und Reformen im Antragsland erfolgen müssen. Anschließend wird über jedes Kapitel einzeln verhandelt und abgestimmt. Erst wenn alle abgeschlossen sind, werden im Beitrittsvertrag die Verhandlungsergebnisse und Übergangsregelungen zusammengefasst, denen nun, siehe Artikel 49, sowohl das EU-Parlament als auch alle nationalen Volksvertretungen zustimmen müssen.

"Dutzende wurden getötet. Und das ist der Preis, den wir für die Freiheit zahlen müssen"

Bewegt erzählt Wolodymyr Selenskyj in seiner Rede vom größten Platz des Landes, dem Freiheitsplatz in Charkiw: "Können Sie sich vorstellen", fragt er die EU-Volksvertreter, "dass heute Morgen zwei Marschflugkörper diesen Freiheitsplatz getroffen haben? Dutzende wurden getötet. Und das ist der Preis, den wir für die Freiheit zahlen müssen."

Der Präsident scheint mit den Tränen zu kämpfen. Und nicht nur er: Auch Victor Schewtschenko, Simultandolmetscher beim Europaparlament, schluchzt hörbar, während er Selenskyjs Worte ins Deutsche übersetzt. Es seien Nachrichten gewesen aus einer Stadt, die ihm sehr am Herzen liege, erklärt er später vor der Presse.

Auch der EU-Experte Kai-Olaf Lang mag der Ukraine keine Hoffnung auf ein verkürztes Beitrittsverfahren machen. Der Aufnahmeprozess in die EU sei "aus gutem Grund sehr gründlich", sagt er. Die Mitgliedschaft erfordere "tiefgehende Reformen und dazu braucht man neben vielem anderen nicht zuletzt einen funktionsfähigen Staat". Die erprobte Vorgehensweise der EU machen eine ausführliche Vorbereitungsphase erforderlich, die von Hilfs- und Fördermaßnahmen flankiert werde.

Experte attestiert Ukraine "gewisse demokratische Standards"

Probleme mit früheren und derzeitigen Beitrittskandidaten hätten gezeigt, so der Experte, "dass man für die Aufnahme neuer Mitglieder die Bedingungen und deren Umsetzung eigentlich noch strikter gestalten muss". Dabei habe sich die Ukraine bisher auf einem guten Weg befunden. Das Land habe strukturelle Schwierigkeiten, wie sie die EU auch bei der Aufnahme anderer Staaten erlebt habe.

Der Zustand von Staat und Politik oder die Leistungsfähigkeit ihrer Strukturen seien noch nicht auf der Höhe der Anforderungen. "Aber gewisse demokratische Standards gab es bisher schon und auch die Wirtschaft befand sich trotz des Einflusses der Oligarchen im Wandel – man hätte eine Grundlage, auf der man aufbauen könnte."

Nicht vergessen dürfe man, dass die Ukraine ein Assoziierungsabkommen mit der EU habe und dass es auch Visafreiheit gebe. Klar sei aber auch, "dass der Weg in die EU selbst ohne Krieg ein ein sehr, sehr langer und schwieriger Marsch wäre."

"Einer Erweiterung der EU", gibt Lang zu bedenken, "müssten alle Mitgliedsstaaten zustimmen – und das wäre nicht wahrscheinlich, vor allem nicht in der jetzigen Situation." Schon die Vergabe des Kandidatenstatus bedürfe der Einstimmigkeit und bedeute noch längst nicht, dass man am Ende wirklich beitreten werde. Bis zur Aufnahme der langwierigen Verhandlungen könne es Jahre dauern. Es gebe viele Erweiterungsskeptiker in der EU, "die tun sich schon bei der Diskussion um die Neuaufnahme kleiner Länder des Westbalkans schwer".

Selenskyjs Hoffnungen kann die EU wohl nicht erfüllen

Die Ukraine mit gut 44 Millionen Einwohnern aber sei "ein großes Land und daher eine ganz andere Hausnummer. Dessen Aufnahme wäre schon in Friedenszeiten eine immense Herausforderung für die EU." Doch nach Ende des Krieges werde die Ukraine auf Jahre hinaus mit dem Wiederaufbau beschäftigt sein.

"Beweisen Sie, dass sie auf unserer Seite stehen", appellierte Wolodymyr Selenskyj am Ende seiner Rede. "Beweisen Sie, dass Sie wirklich Europäer sind. Und dann wird das Leben siegen über den Tod und das Licht über die Dunkelheit."

Es scheint allerdings, dass Europa derzeit nicht über die Möglichkeit verfügt, um dem Präsidenten und der Bevölkerung der Ukraine einen Weg in die Zukunft zu weisen.

Über den Experten: Dr. Kai-Olaf Lang ist Experte für Ost- und Mitteleuropa, europäische Politik und Erweiterungspolitik der EU bei der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Verwendete Quellen:

  • Amtsblatt der Europäischen Union C 326/13: Vertrag über die Europäische Union (konsolidierte Fassung).
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