Der britische Soldat Shaun Pinner kämpfte 2022 in Mariupol an der Seite der Ukraine gegen Russland. Im April geriet sein Bataillon in einen Hinterhalt – und er wurde gefangengenommen. Sechs Monate erlebte er Folter und Hunger. Warum er dennoch in ein glückliches Leben zurückfand, erzählt er im Gespräch mit unserer Redaktion.

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Eine Tasse Tee zu kochen, ist heute ein Erlebnis für ihn. Frei auf die Toilette gehen zu dürfen, nicht mehr 23 Stunden in einem Raum eingeschlossen zu sein – Alltägliches wurde für Shaun Pinner zum Privileg. Und während er darüber spricht, muss er immer wieder anfangen zu lachen. Ein wenig Galgenhumor, sagt er, braucht es in solchen Situationen.

Pinner ist heute 50 Jahre alt. Der Brite war zwischen April und September 2022 in russischer Kriegsgefangenschaft. Monatelang erlebte er Misshandlungen, Stromschläge – "nur zum Spaß", wie er sagt -, Hunger und Demütigungen. Monatelang wusste er nicht, ob er am nächsten Tag ermordet werden würde.

Bis August 2.600 ukrainische Soldaten befreit

Wie können Menschen nach solchen Erfahrungen normal weiterleben? Noch immer werden Tausende ukrainische Soldaten auf russischem und von Russland besetztem Boden gefangen gehalten. Im August sprach Kiew von knapp 2.600 Gefangenen, die bisher befreit wurden.

Unter ihnen ist auch Pinner. Als Russland im Februar 2022 in die Ukraine einmarschierte, kämpfte er auf der Seite der Ukraine in der südöstlich gelegenen Stadt Mariupol. Im April 2022 wurde Mariupol von russischen Truppen eingenommen. Im Gespräch mit unserer Redaktion berichtet er davon, dass seine Einheit fliehen wollte – zurück zu den eigenen Linien. Doch sie gerieten in einen Hinterhalt. Das Bataillon wurde getrennt. Etwa zwei Stunden außerhalb der Stadt nahmen russische Soldaten sie gefangen.

Es folgten Folter, Erniedrigungen, Hunger. "Bei der Gefangennahme wurde ich in ein Haus gebracht und mit einem Messer ins Bein gestochen." Etwa fünf bis sieben Zentimeter tief, sagt er. Stromschläge an Händen und Ohren kamen hinzu. Und: "Nachdem sie mich windelweich geprügelt hatten, gab es in der Nacht eine Scheinhinrichtung. Sie hielten mir eine Pistole an den Kopf und lachten. Das war alles ein Scherz für sie."

Scheinprozess in Donezk: Todesurteil für Shaun Pinner

Er wurde in das seit 2014 von prorussischen Separatisten besetzte Donezk verschleppt. Dort wurden sie in einem Scheinprozess wegen angeblichem Terrorismus und Söldnertum zum Tode verurteilt. Im September konnten er und einige seiner Mitgefangenen über einen Gefangenenaustausch freikommen.

Und nun? Wie geht es weiter – ein Jahr nach seiner Freilassung? "Es ist eine ganz neue Welt", sagt Pinner. "Ich schätze jetzt die kleinen Dinge." Wie etwa die Tasse Tee, das Essen, seine Familie. Dennoch konnte der 50-Jährige zur Normalität zurückkehren, meint er. Arbeiten gehen, lachen. Pinner arbeitet wieder mit dem Militär zusammen. Auch wenn er nie wieder kämpfen wird. Allein aus medizinischen Gründen könne er das gar nicht. Doch vergessen will er nicht. "Die Leute sind an unserer Geschichte interessiert und ich spreche darüber." Gerade veröffentlichte Pinner sein Buch "Live. Fight. Survive.", in dem er über seine Erfahrungen aufklärt. Alles Therapie für ihn. Hilfe, die er sich selbst gibt.

Dabei gibt es Programme für Menschen, die in Kriegsgefangenschaft waren. Sowohl in der Ukraine als auch in Großbritannien. Sogar hier in Deutschland. Doch Details dazu sind streng geheim. Das erklärt Truppenpsychologe Markus Auschek im Gespräch mit unserer Redaktion. Auschek arbeitet für die Bundeswehr und ist dabei unter anderem auf das Thema psychologische Aspekte von Extremsituationen, wie Geiselhaft, und Reintegration, spezialisiert.

Ukraine stellt Millionen für Reintegration bereit

Laut dem ukrainischen Ministerium für Reintegration hat man bis Ende September bereits mehr als 277 Millionen Griwna (etwa 7,15 Millionen Euro) staatliche Hilfe für freigelassene politische Gefangene, ihre Familien, zivile Geiseln und Kriegsgefangene bereitgestellt. Dazu zählt neben finanzieller Unterstützung eben auch die psychologische.

Doch Pinner sagt, er habe das nicht zwingend gebraucht. Zudem sei er aus der Gefangenschaft direkt nach Großbritannien gebracht worden. Ein ukrainisches Programm sei daher für ihn nicht infrage gekommen. Er habe die Erlebnisse gut verkraftet, was ihm zunächst wohl nicht alle glaubten.

"Ich musste fast durch Reifen springen, um den Leuten zu sagen, dass es mir wirklich gut ging", erzählt er. "Ich war bereits 13 Jahre lang in der Armee. Ich war ein bisschen älter als die anderen, sprach Russisch. Ich verstand, was vor sich ging. Für mich war es also eine etwas andere Umgebung. Wenn man so lange in der Armee ist, erwartet man fast, gefangengenommen zu werden." Und es gehe ihm tatsächlich gut. "Ich schlafe wie ein Baby, ich trinke nicht viel, ich spreche mit Psychiatern, ich habe eine wundervolle Familie, meine Ehefrau, viele Menschen, die mich lieben."

Er sei immer ein Mensch gewesen, für den das Glas halb voll und nicht halb leer ist. "Die Gefangenschaft hatte einen positiven Einfluss auf mein Leben", erzählt er. "Meine Karriere hat sich verändert: Ich habe ein Buch geschrieben, das verfilmt werden könnte, ich bin ständig in den Medien, ich halte Vorträge auf der ganzen Welt. Aus diesem negativen Vorfall ist wirklich etwas Positives für mich entstanden. Es kommt darauf an, wie man es betrachtet."

Truppenpsychologe: "Jede ehemalige Geisel ist für mich ein Gewinner"

Für viele kaum vorstellbar: Etwas Positives aus einer solchen Erfahrung mitnehmen? Truppenpsychologe Auschek ist jedoch überzeugt: "Jede ehemalige Geisel, die vor mir sitzt, ist ein Gewinner. Denn wenn er kein Gewinner wäre, würde er nicht vor mir sitzen." Die Gesellschaft betrachte Menschen, die solche Erfahrungen gemacht haben, meist als Opfer, sagt er. "Damit legen wir fest, worauf dieser Mensch reduziert wird." Ein Trauma, eine mögliche Notwendigkeit zur Therapie sei sicherlich ein Aspekt, sagt Auschek. Die Frage sei aber, wie viel Raum dieser Aspekt einnehme.

Auschek fokussiert sich weniger auf die negativen Seiten. "Wenn du mir erzählen willst, was dir passiert ist, würde mich das interessieren", sagt er. "Aber mehr noch, wie du mit dem umgegangen bist." Was hat die Person in welcher Situation gemacht, um sich selbst dort herauszuholen? "Diese Strategien, die du da angewendet hast, die dir vielleicht noch gar nicht bewusst sind – diese Strategien kann man anderen an die Hand geben."

Was durch diese Art der Betrachtung entstehe, sei etwas, das durch Gefangenschaft verloren gehe: Sinnhaftigkeit. Die Frage nach dem Warum. Warum ich? Warum das alles? Was hat es genützt, dass ich mich in eine solche Gefahr begeben habe? "Aber wenn du mitbekommst, dass deine Strategien für andere noch hilfreich sein können, dann wirst du vielleicht das erste Mal denken: Na ja, vielleicht war es doch nicht umsonst." Dadurch entstehe eine fundamentale Voraussetzung für ein Leben nach der Geiselhaft, das lebenswert und sinnstiftend ist. Dies ist laut Auschek Teil eines psychologischen Konstruktes, dem posttraumatischen Wachstum.

Nach russischer Haft: Brite will Aufmerksamkeit auf Ukraine lenken

Weitere Punkte, um wieder zu einem normalen Leben zurückkehren zu können, seien Kontrolle und Vorhersehbarkeit. Denn auch dies seien Faktoren, die Menschen in Gefangenschaft gänzlich genommen werden.

Für Ex-Häftling Pinner hat sich die Situation zum Guten gewendet. Seine Erfahrungen nutzt er heute, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das zu lenken, was in der Ukraine geschieht. "Mir geht es nicht um Geld oder Erfolg – in dieser Hinsicht bin ich schon glücklich genug", sagt er. Auch Pinner hat also den Sinn hinter seiner Geschichte gefunden. Und wie der Psychologe Auschek sagt: "Wir müssen entscheiden: Ist der Mensch ein Opfer oder ist er ein Überlebender?"

Über die Gesprächspartner:

  • Markus Auschek ist Truppenpsychologe bei der Bundeswehr.
  • Shaun Pinner ist britischer Staatsangehöriger und kämpfte als Soldat in der Ukraine. Nach der Gefangennahme durch russische Truppen kam er über einen Gefangenenaustausch frei und hat mittlerweile ein Buch über seine Erlebnisse geschrieben.

Verwendete Quellen:

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