Die Ukraine verstärkt ihre Drohnenangriffe auf Russland. Mehrere Regionen, weit von der russisch-ukrainischen Grenze entfernt, sind getroffen worden. Dahinter steckt Kalkül, um die russische Kriegsführung zu untergraben. Militärexperte Gustav Gressel erklärt die Taktik und sieht eine Chance, die sich der Ukraine jetzt bieten könnte.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Drohnenschwärme tragen den Krieg immer weiter nach Russland: Mehrere Nächte in Folge hat der Kreml zahlreiche Angriffe aus der Ukraine beklagt. Dutzende Flugkörper will die russische Armee zwar abgefangen haben. 200 Kilometer südöstlich von Moskau aber schlug mindestens eine Drohne in eine Ölraffinerie bei Rjasan ein.

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Die Anlage, die Zentralrussland mit Treibstoff versorgt und von Rosneft betrieben wird, fing Feuer, meldet Reuters. Mehrere Menschen wurden verletzt. Auch ein Gebäude des Inlandsgeheimdienstes FSB in Belgorod soll getroffen worden sein, wie der "Deutschlandfunk" berichtet. Von erfolgreichen Drohnenangriffen der Ukrainer zeugen auch brennende Energieanlagen in den Regionen Nischni Nowgorod, Orjol und Kursk.

Beobachter stufen die Drohnenangriffe auf weit entfernte Objekte und Ziele als Strategiewechsel der ukrainischen Armee ein. Von einer Stabilisierung der Frontlinie kann man laut Militärexperte Gustav Gressel allerdings noch nicht sprechen. Ein Anzeichen für den ukrainischen Strategiewechsel ist, so die Beobachtung, dass Kiew derzeit russische Ölraffinerien ins Visier nehme. Die Rechnung dahinter: Wenn Russlands Raffinerien weniger Treibstoff produzieren können, den die Soldaten aber brauchen, gehen die Angriffe auf die Ukraine zurück.

Ukrainische Attacken auf die Industrie verfolgen ein konkretes Ziel

Strategische Bombardements mit Drohnen sind im Ukraine-Krieg nicht neu. Russland hat damit bereits im Oktober 2022 begonnen, die Ukrainer haben immer weiter nachgezogen. "Man versucht wechselseitig, die strategischen Industrien des anderen zu zerstören oder zu stören, um die Finanzierungsfähigkeit im Krieg zu untergraben", sagt Gressel. Die russischen Streitkräfte hätten das vor allem bei Strom versucht, da es sich dabei um ein wichtiges ukrainisches Exportgut handelt.

"Durch die Zerstörung von vielen Transformatoren und Verteilerstationen hat man diese Einnahmequelle zunichtegemacht. Danach folgten Angriffe auf den Getreidesektor, also auch auf die Lagerfähigkeit, Produktionsmittel und so weiter", sagt der Experte. Das Kalkül auch hier: Den Getreideexport stören, um der Ukraine die Erlöse aus den Geschäften vorzuenthalten und Arbeitsplätze zu vernichten.

Ukraine hat Pipelines und Lagerstätten im Blick

"Dafür kommt jetzt die Retourkutsche", sagt der Experte. Bereits seit etwa einem halben Jahr konzentriere sich die Ukraine darauf, mit Drohnen vor allem die Öl- und Gasindustrie zu treffen. Im Blick habe sie dabei beispielsweise Endstationen von Pipelines, Entladehäfen und Lagerstättenzentralen.

"Vieles ist in Russland Pipeline-gebunden. Wenn ich in dieser Infrastruktur Flaschenhälse angreife, richte ich viel Schaden an – und der Gegner hat wenige Möglichkeiten, alternative Routen oder Produktionsstätten zu finden", erklärt Gressel. Erdöl und Erdölprodukte sind mit die wichtigsten Exportposten des Kremls; entsprechend schwer treffen Russland die ukrainischen Attacken.

"Der Schaden muss dauerhaft hochgehalten werden, sonst kann er repariert werden."

Gustav Gressel, Militärexperte

"Sie sind sehr wichtig für die Steuereinnahmen – fehlen die, untergräbt das auch die Kriegsführung", sagt Gressel. Schließlich würden die Panzer mit Diesel fahren und die Flugzeuge bräuchten Kerosin. Die Ukraine versuche Sand ins Getriebe der russischen Rüstungsindustrie zu streuen, indem sie deren Finanzmittel attackiere.

Russland habe den Export von raffinierten Produkten bereits teilweise stoppen und Benzin zum Teil rationieren müssen. "Das zeigt, dass die ukrainischen Angriffe zu einem gewissen Teil erfolgreich sind", folgert Gressel. Die Frage bleibe jedoch, wie lange die Ukraine die Drohnenangriffe auf diesem Niveau durchhalten oder sogar noch hochfahren kann. "Der Schaden muss dauerhaft hochgehalten werden, sonst kann er repariert werden."

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Beide Länder haben die Drohnenproduktion massiv gesteigert. Den Ukrainern mangelt es vor allem an Artilleriemunition, um der Feuerüberlegenheit Russlands etwas entgegensetzen zu können. Das sollen Drohnen offenbar ausgleichen, auch direkt an der Front.

Auch einen psychologischen Effekt haben die Angriffe auf russisches Staatsgebiet: Putin, der sich seine Macht nun bei der Wahl Mitte März bestätigen lassen will, gibt keine gute Figur ab, wenn er das eigene Territorium nicht schützen kann.

Für Bewertung der Drohnenangriffe ist es noch zu früh

"Das Problem aus ukrainischer Sicht ist, dass viele russische Rüstungsbetriebe als Folge des Zweiten Weltkrieges hinter dem Ural liegen und deshalb aufgrund der Entfernung und der Reichweite der ukrainischen Waffen schwer zu erreichen sind", sagt Gressel. In der Debatte um den Taurus-Marschflugkörper war immer wieder die Sorge geäußert worden, das deutsche Waffensystem könnte am Ende Ziele in Russland treffen und damit einen Krieg zwischen Russland und der Nato auslösen.

"Es ist aus ukrainischer Sicht einfacher, die chemische Industrie und die Zulieferindustrie zu treffen", sagt Gressel. Diese Industriezweige befänden sich im Westen – und damit in Reichweite. "Wie erfolgreich die Drohnenangriffe der Ukraine sind, werden wir erst noch sehen", sagt der Experte. Das sei eine Frage der Zeit. Wenn sich die Drohnenangriffe der Ukraine jetzt verstärken würden, hätte Russland aus Gressels Sicht ein Problem.

Chance für die Ukraine

"Dann müssen sie etwa Flugzeuge und Fliegerabwehr umplanen und in andere Teile ihres Landes verlegen, damit sie diese Objekte schützen", sagt er. Das sei aus russischer Sicht jedoch enorm schwierig, weil das Land sehr groß ist und es sehr viele Objekte gibt, die man theoretisch schützen müsste.

"Das könnte aber wiederum die Fliegerabwehr an der Front auflockern, weil es nur eine begrenzte Anzahl von Systemen gibt – und der Ukraine zugutekommen", analysiert er und fügt hinzu: "Es könnte ihnen Chancen geben, ihre eigene Luftwaffe ein bisschen aggressiver einzusetzen." Doch all das ist Zukunftsmusik. Den Spätsommer nennt Gressel als Zeitpunkt, um den Erfolg zu bewerten.

Über den Gesprächspartner

  • Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmäßig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Außenpolitik bei Großmächten.

Verwendete Quellen

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