- Wirtschaftlich und politisch hat Kreml-Chef Putin im Ukraine-Krieg kaum etwas zu gewinnen.
- Die Rechtfertigung für seinen brutalen Feldzug: Ideologie.
- Was muss man über sein Weltbild wissen? Und was hat eine radikale Männlichkeit damit zu tun?
- Zwei Experten sprechen über die Unsichtbarkeit von Frauen im Kreml, imperiale Fantasien und sexualisierte Gewalt im Krieg.
Am 24. Februar 2022 hat Russland die Ukraine überfallen und einen kostspieligen Krieg begonnen. Die westlichen Sanktionen kommen dem Kreml Schätzungen zufolge mit 160 Millionen Euro pro Tag zu stehen, die hohen Ausgaben für die Rüstungswirtschaft reißen Löcher in die Staatskasse und zehntausende Russen haben im Krieg bereits ihr Leben gelassen.
Der Widerstand in Russland wird unterdrückt, Kriegsbegeisterung herrscht bei weitem nicht. Kurz und knapp: Politisch und wirtschaftlich scheint das immer weiter isolierte Moskau kaum etwas in der Ukraine gewinnen zu können. Warum treibt Kreml-Chef Putin seine "Spezialoperation" dann mit solcher Brutalität voran?
Ideologie-getriebener Krieg
"Der Überfall auf die Ukraine ist ideologie-getrieben", sagt Russland-Experte Ulrich Schmid. Putins Weltbild habe vor allem drei Dimensionen: Eine imperiale, eine patriarchal-religiöse und eine eurasische. Schmid erklärt: "Putin meint, Russland könne nur als Imperium existieren. Er stützt sich immer wieder auf die russische Kirche und sieht Russland durch die Mongolenherrscher im frühen Mittelalter dafür prädestiniert, eine Brücke nach Asien zu schlagen."
Osteuropahistoriker Alexey Tikhomirov sieht in dem Krieg den Versuch von Putin, solchen illusorischen Ideen ein ideologisches Korsett zu verleihen. "Während mehr als zwanzig Jahren an der Macht hat Putin keine einheitliche Ideologie angeboten", erinnert der Experte. Er habe keine Schrift verfasst, die beispielsweise mit "Mein Kampf" von Hitler vergleichbar wäre. Putin bediene sich für seine Ideologie bei ganz unterschiedlichen Quellen.
Wie Putin sich inszenierte
Hinweise auf sein geopolitisches Weltbild habe es aber in der Vergangenheit immer wieder gegeben. Beispielsweise habe Putin den Zerfall der Sowjetunion schon Anfang der 2000er-Jahre als die "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnet. "Noch früher, im Jahr 2000, brachte Putin die sowjetische Nationalhymne zurück, allerdings mit neuen Worten, aber alter semantischen Bedeutung: die Kontinuität zu Größe, Überlegenheit und Stärke wurde zum Gebot der nachfolgenden Staatsbildung", erinnert Tikhomirov.
Damals habe Putin aber noch versucht, sich als offenes und demokratieorientiertes Staatsoberhaupt darzustellen. Obwohl er seine Rede 2001 vor dem Deutschen Bundestag demonstrativ auf Deutsch hielt und für tiefe deutsch-russische Beziehungen als Garant der internationalen Sicherheit warb, begann er zuhause in Moskau beispielsweise mit der Gleichschaltung der Medien, der Stilllegung der Opposition und der Zivilgesellschaft.
Experte: "Putin steckt in rhetorischem Dilemma"
Aus Sicht von Schmid hat in den vergangenen Jahren außerdem die Religion an Bedeutung gewonnen. "Das Putin-Regime musste sich neben fassadenhaften demokratischen Strukturen nach alternativen Macht- und Legitimationsressourcen umsehen", analysiert er. Das gehe so weit, dass Patriarch Kirill buchstäblich die russischen Kanonen gesegnet habe.
Schmid meint: "Putin befindet sich seit Februar 2022 in einem rhetorischen Dilemma." Das entstehe aus der Tatsache, dass er eine de-politisierte Gesellschaft nun mobilisieren müsse. Jahrelang habe das Motto gelautet: "Ihr könnt euch ein kleines mittelständisches Glück erarbeiten, einmal im Jahr in der Türkei Urlaub machen, eine Datscha haben auf dem Land – aber ihr mischt euch nicht in die Politik ein."
Tikhomirov beschreibt das als das zynische Prinzip des sozialen Paktes: "Der Staat rührt uns nicht an und wir mischen uns in die Politik nicht ein". Die Gesellschaft habe das weitgehend akzeptiert. "Putin muss Bürger nun aber für den Krieg mobilisieren. Jetzt geht es nicht mehr um die Erlaubnis "ihr könnt euch um eure privaten Angelegenheiten kümmern", sondern um den Imperativ "ihr müsst für uns sterben"", zeigt Schmid auf. Dieser Spagat sei schwierig.
Kampf von "Gut" gegen "Böse"
Putin versuche ihn mit Propaganda auf unterschiedlichen Ebenen zu meistern. "Stellenweise ist seine Rhetorik fast romantisch, wenn er im Zusammenhang mit dem Krieg von Brüderlichkeit und Liebe spricht", sagt Schmid. Damit wolle er den Krieg und die nationale Einheit emotional aufladen.
Tikhomirov ergänzt, Putin dramatisiere seine "Spezialoperation" aus der Perspektive eines sakralen Kampfes des "Guten" gegen das "Böse". Patriarch Kirill habe mehrfach behauptet, Russland kämpfe in der Ukraine gegen "Satanisten" und den "Antichrist" selbst.
Andererseits spreche Putin auch von einer Einheit aus Russen, Belarussen und Ukrainern. Als "Sammler der russischen Länder" beanspruche er deshalb territoriale Anschlüsse von beliebigen Zonen, so der Experte. Immer wieder taucht auch das Motiv der "Ent-Nazifizierung" und "Ent-Militarisierung" auf. Schmid erklärt: "Die größte Leistung, die Russland in einer Binnensicht im 20. Jahrhundert vollbracht hat, ist der Sieg über Hitler-Deutschland." Putin versuche, den aktuellen Krieg mit diesem historischen Sieg zu verbinden.
Radikale Maskulinität
Letztlich gehört zu Putins Weltbild auch eine konkrete Vorstellung davon, wie ein Mann zu sein hat. Diese Maskulinität geht weit über die Tatsache hinaus, dass Putin immer wieder gegen westliche LGBTQ-Communities hetzt. Als Staatsoberhaupt inszeniere Putin sich als Schützer, Garant der Stabilität und Hüter der Friedensordnung, sagt Tikhomirov. Die Kriege in Tschetschenien, Georgien, Syrien und der Ukraine hätten zu einer Radikalisierung der Kremlelite geführt. "Sie wurden selbst zu Apologeten der "toxischen Männlichkeit"", sagt der Experte.
Die radikale Maskulinität sei unter anderem eine Folge der alternden politischen Elite im Kreml. Mit einem Durchschnittsalter von 70 Jahren seien die meisten in der Sowjetunion aufgewachsen und sozialisiert. Putin inszeniere sich als Patriarch, der sich um das Gemeinwohl des Landes sorge.
Experte: "Putin erinnert an Mafiaboss"
"In der Tat erinnert sein Verhalten an das eines Mafiabosses. Der Ehrenkodex der geschlossenen Mafia-Gruppe verlangt die persönliche Treue und die Dominanz des Stärkeren. Freie Konkurrenten sollen eliminiert, alle Andersdenken sollen zum Schweigen gebracht werden."
Putin verwende dabei die Sprache eines Gewalttäters. Tikhomirov: "Auf einer Pressekonferenz sagte er in Bezug auf die Ukraine: ‚Ob es dir gefällt oder nicht, meine Schöne, du musst es erdulden‘." Das schlage sich letzten Endes in einem brutalen Krieg mit sexualisierter Gewalt nieder, durch die sich die Gewalttäter in ihrer Männlichkeit bestätigt sehen. Gleichzeitig verweist Tikhomirov darauf, dass viele militärische Konflikte von sexualisierter Gewalt begleitet wurden und warnt vor dem in Deutschland ausgeprägtem Vorurteil des "Russen als Vergewaltiger".
"Unsichtbarkeit" von Frauen im Kreml
Außerdem attestiert Tikhomirov dem Kreml eine "Unsichtbarkeit" der Frauen. "Putin ist seit 2013 offiziell getrennt. Die bereits vielen Jahre ohne First Lady im heutigen Kreml haben zu einer weiteren Maskulinisierung der Innen- und Außenpolitik in Russland beigetragen", ist er sich sicher. Das Fehlen einer First Lady trage zur Verfestigung patriarchaler Strukturen in der aktuellen Geschlechterordnung bei. Mit Frauen seien auch empathische Reaktionen auf Menschenrechtsfragen, Themen wie die Verhinderung von Gewalt gegen Frauen und Kinder und der Schutz der Schwachen, aus dem öffentlichen Raum verschwunden.
"Die heutige Kreml-Elite hat sich auf eine Verfolgungsgemeinschaft reduziert, deren Aufgabe es ist, innere und äußere Feinde zu identifizieren und zu vernichten", sagt er. Den Frauen der Kreml-Politiker werde die Dominanz im Privaten zugewiesen: Kindererziehung und Haushaltsführung. "In den Villen und auf den Yachten genießen sie den Reichtum, den die Kremlherren ihnen bieten. Im Gegenteil werden Politik und Krieg für eine männliche Tugend monopolisiert", analysiert Tikhomirov.
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Sichere Welt der "echten Männer" verschwindet
Als die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) ihren Amtskollegen Sergej Lawrow 2022 in Moskau traf, bot er ihr Wodka während des Essens an. "Zum Gastgeberitual der männlich geprägten Diplomatie erwiderte sie selbstbewusst: ‚Wenn mittags Wodkatrinken Härtetest ist ... Ich habe zwei Kinder geboren‘", erinnert Tikhomirov.
Aus Sicht des Kremls verschwindet die alte, sichere Welt der "echten Männer". "Man trinkt keinen Alkohol bei der Arbeit mehr, über die Frauen darf man nicht mehr scherzen, man findet sogar die Frauen auf der anderen Seite des Tisches nicht in der Rolle der Sekretärin, sondern einer gleichberechtigten Kollegin", zeigt Tikhomirov auf. Putin habe seine mentale Distanz beispielsweise mit dem fünf Meter langen Tisch ausgedrückt, an dem er kurz vor Ausbruch der Kriegshandlungen seine Gäste empfing.
Verwendete Quellen:
- RND: Sanktionen kosten Kreml 160 Millionen Euro pro Tag
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