Russische Truppen greifen die ukrainische Region Charkiw seit einigen Tagen in einer Großoffensive an. Experten ordnen die aktuell schwierige Lage für die Ukraine ein.

Eine Analyse
von Didier Lauras (AFP)
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Didier Lauras (AFP) sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die russische Offensive um Charkiw stellt die Ukraine vor ein strategisches Dilemma: "Sie muss die Frontlinie verteidigen, aber auch strategische Punkte", insbesondere die großen Städte, sagt der Politikwissenschaftler Pierre Razoux vom französischen Forschungszentrum FMES. Beide Ziele zu erreichen ist Kiew derzeit nicht in der Lage. Die kommenden Wochen "könnten zu den schwierigsten Zeiten für die Ukraine in diesem Krieg werden", schreibt der frühere australische General Mick Ryan im Onlinedienst X.

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Er sieht Kiew nicht nur vor einem militärischen wie auch politischen Problem: "Wenn die Ukrainer sich dazu entschließen, das Gebiet um jeden Preis zu halten, werden sie noch mehr von ihrer immer kleiner werdenden Armee verlieren. Wenn sie sich dafür entscheiden, ihre Armee zu erhalten, werden sie Boden abgeben müssen."

Innerhalb weniger Tage besetzten die russischen Truppen dutzende Quadratkilometer im Nordosten des Landes, etwa 30 Dörfer standen etwa am Montag unter Beschuss. Die Rasputiza, das Tauwetter, das den ukrainischen Boden in tiefen Schlamm verwandelt, ist vorbei. Die warme Jahreszeit begünstigt weitere russische Bodenmanöver.

Russische Truppen haben wohl nicht Stadt Charkiw als Ziel

Westlichen Analysten zufolge hat Moskau jedoch nicht das unmittelbare Ziel, die Industriemetropole Charkiw zu erobern. In diesem Gebiet "sind die russische Streitkräfte nicht zahlreich genug, um eine Stadt von der Größe Charkiws einzunehmen", urteilt Ryan. Aber Russland könne den Artilleriebeschuss auf die zweitgrößte Stadt verstärken.

Seit Februar 2022 führt Moskau einen Abnutzungskrieg, was Menschen, Material und Kiews Verbündete betrifft. Russland ist militärisch überlegen, vor allem da das US-Repräsentantenhaus erst im April nach monatelanger Blockade weitere 61 Milliarden Dollar (56,5 Milliarden Euro) für die Ukraine freigab.

Die Ukrainer "waren gezwungen, ihre Geschosse und ihr Kriegsmaterial über Monate zu rationieren", was ihre Verluste erhöht habe, sagt Ivan Klyszcz vom Internationalen Zentrum für Verteidigung und Sicherheit (ICDS) in Estland.

Nach dem Scheitern der ukrainischen Offensive vergangenen Sommer und mit dem Ende des Winters ergreift Russland jetzt wieder die Initiative. Und es könne sich hohe Verluste leisten, sagt der Wissenschaftler Razoux. "Moskau weiß, dass es über eine menschliche Reserve und eine industrielle Kapazität verfügt, die der Ukraine weit überlegen sind."

Kreml will Pufferzone schaffen

Der Kreml will eigenen Angaben zufolge eine Pufferzone im Nordosten der Ukraine schaffen, um die russische Region Belgorod vor weiteren Angriffen zu schützen. In der Grenzregion hat Russland einen klaren logistischen Vorteil. "Die Russen können Luftunterstützung, Drohnen und Artillerie mobilisieren, indem sie von ihrem Territorium aus schießen, also mit verkürzter Logistik und Luftüberlegenheit", sagt Razoux. "Sie sind in einer optimalen Position."

Erst in mehreren Wochen oder gar Monaten wird sich zeigen, ob Russland seinen Vorstoß im Nordosten ausweiten und längerfristig einen strategischen Vorteil an anderen Stellen der Front ziehen kann. Eine "grundlegende Änderung" der russischen Strategie kann Klyszcz nicht erkennen. "Die Eroberung der gesamten Donbass-Region scheint im Moment die höchste Priorität zu haben", sagt er.

Der jüngste russische Vorstoß "zeugt von einem geringen Widerstand", schreibt der französische Forscher und General im Ruhestand, Olivier Kempf, in seinem Blog. Offensichtlich wolle Kiew nicht zu viele Kräfte in schwer zu verteidigenden Gegenden verbrauchen. Das in drei Tagen eroberte Gebiet sei aber "nicht zwangsläufig von Bedeutung", urteilt Kempf.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat jedoch zweifellos vor, auch bei den Verbündeten Kiews Eindruck zu hinterlassen. Im November wird in den USA gewählt und Donald Trump könnte wieder an die Macht kommen, der nicht gewillt ist, die Unterstützung für die Ukraine fortzusetzen.

"Wenn die Ukraine vor der Wahl in die Knie geht, wäre das für Trump ein Beweis, dass Joe Biden ein Verlierer ist, der auf das falsche Pferd gesetzt hat", sagt Razoux. (AFP/tas)

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