• Sie ist nur 0,2 Quadratkilometer groß, aber strategisch spielt die Schlangeninsel im Schwarzen Meer für Russland und die Ukraine eine wichtige Rolle.
  • Nun ist es ukrainischen Soldaten gelungen, russische Streitkräfte zu verdrängen.
  • Militärexperte Gustav Gressel erklärt, warum die Insel strategische Relevanz hat und was Russlands Rückzug nun bedeutet.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen der Autorin bzw. des zu Wort kommenden Experten einfließen. Hier finden Sie Informationen über die verschiedenen journalistischen Textarten.

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Auf den ersten Blick ist es nur ein karger weißer Felsen, der aus dem Schwarzen Meer ragt. 40 Meter hohe Klippen, kaum bewachsen, nur eine Straße. Doch die Schlangeninsel, etwa 70 Kilometer vor der ukrainischen Küste gelegen, ist von hoher strategischer Bedeutung. "Schon am ersten Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine haben die Russen sie erobert", erinnert Militärexperte Gustav Gressel.

Damals schrieb ein derber Funkspruch Geschichte. Die russische Marine, die mit dem Kreuzer "Moskwa" und der Korvette "Wassili Bykow" anlief, forderte die ukrainische Einheit per Funk zur Aufgabe auf. Soldat Roman Hrybow antwortete aber nur: "Russisches Kriegsschiff, fick dich!". Die russische Einnahme gelang trotzdem, ukrainische Soldaten wurden gefangen genommen.

Empfindliche Niederlage für Russland

Nun aber musste Russland sich wieder von der Insel zurückziehen. Eine empfindliche Niederlage, sind sich Beobachter sicher. "Die Schlangeninsel liegt direkt vor Odessa, nahe der rumänischen Grenze", sagt Gressel. Sowohl der Donau-Eingang als auch die Ansteuerung von Odessa könne von dort aus kontrolliert und überwacht werden.

Wer die Schlangeninsel besetze, habe weitgehende Kontrolle über den nordwestlichen Teil des Schwarzen Meeres und den Luftraum im Süden der Ukraine. Anders gesagt: Die Seewege zur größten ukrainischen Hafenstadt können von der Schlangeninsel aus kontrolliert werden.

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Nur wenige Inseln im Schwarzen Meer

"Wenn man auf der Schlangeninsel Fliegerabwehr und Anti-Schiffsraketen stationiert hat, ist sie eine kleine Festung, die auch gegen den Nato-Staat Rumänien reichen würde", erklärt Gressel. Im gesamten Schwarzen Meer gebe es nur wenige Inseln. Der ursprüngliche russische Plan sei gewesen, einen militärischen Stützpunkt zu errichten, um ukrainische Häfen wirkungsvoll zu blockieren, so Gressel.

Nach mehreren Monaten unerbittlicher Kämpfe mussten sich die Russen nun zurückziehen. Das Verteidigungsministerium in Moskau bestätigte den Rückzug von der Insel. Der Kreml stellte den Abzug als "Zeichen des guten Willens" dar, um der Weltgemeinschaft zu demonstrieren, dass Moskau die Bemühungen der Vereinten Nationen nicht behindere, einen humanitären Korridor zum Export landwirtschaftlicher Produkte aus der Ukraine zu organisieren.

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Angriff von Versorgungsschiffen

Die Ukraine hat derweil ein anderes Narrativ: Ihrer Darstellung zufolge wurde der Abzug mit zahlreichen massiven Artillerieschlägen erzwungen. Mehrere Flugabwehrraketensysteme des Typs "Panzir" sollen dabei zerstört worden sein. Auch Gressel hat beobachtet, dass die Ukraine zuletzt den Druck erhöht hatte:

"Die Ukrainer haben mit Raketen vom Typ 'Harpoon' vermehrt russische Versorgungsschiffe, die Fliegerabwehr auf die Insel transportiert haben, angegriffen", sagt er. Danach hätten die Ukrainer mit Drohnen erkundet, was sich auf der Schlangeninsel befinde und Angriffe mit Drohnen und Raketenartillerie angeschlossen.

Bewusste Täuschung hat Russen wohl unvorbereitet getroffen

"Man hat dabei die Russen bewusst getäuscht", sagt Gressel. Zu Beginn der Kampagne hätten die Ukrainer verlautbart, dass sie sogenannte Bayraktar-Drohnen nicht mehr einsetzen würden, weil die russische elektronische Kampfführung so effektiv sei, dass man sie nicht mehr steuern könne. "Während man das angekündigt hat, hat man sie trotzdem fliegen lassen", sagt Gressel.

Das scheine die Russen etwas unvorbereitet getroffen zu haben. "Es sind Fliegerabwehrsysteme ausgeschaltet worden, die die Bayraktar-Drohnen eigentlich hätten sehen sollen", sagt der Experte. Die Russen hätten irgendwann gemerkt, dass sie System für System in den Kampf um die Insel schickten, ohne Erfolge zu sehen. "Die Russen habe nicht unendlich viele wertvolle Systeme", sagt Gressel. Deshalb habe man den Kampf um den wichtigen Vorposten wohl aufgegeben.

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Hoffnung für Nahrungsmittelkrise

"Dass die Russen sich zurückgezogen haben, ist für die Ukrainer ein taktischer Erfolg. Nachdem es im Donbass nicht gut gelaufen ist, ist das auch moralisch wichtig", analysiert der Experte. Der ukrainische Erfolg zeugt aus seiner Sicht von der Bedeutung westlicher Waffenlieferungen und könnte ein Hoffnungsschimmer in der drohenden Nahrungsmittelkrise sein.

Durch den Abzug der russischen Kräfte kann nun nämlich wieder Getreide aus den Häfen exportiert werden. "Die Ukrainer sind aber noch nicht im Besitz der Schlangeninsel", erinnert Gressel. Man dürfe also nicht zu voreilig sein: "Wenn sie dort Stellungen errichten, könnten die Russen sie aus der Krim auch ständig angreifen", sagt er. Man werde in den nächsten Tagen sehen, ob die Ukraine die Schlangeninsel besetze und inwieweit Russland sie angreife.

Signal an die Waffenlieferanten

Wenn die Ukraine es aber schaffe, eine dauerhafte Präsenz aufzubauen, könne sie von dort aus unter Umständen Gasbohrungs- und Ölplattformen im Schwarzen Meer zurückerobern, die die Russen ebenfalls besetzt haben. "Dann wäre das Minenräumen etwas einfacher und die Frage des Getreideexports aus Odessa wäre wieder eine andere", schätzt Gressel.

Wenn neutrale Schiffe Odessa anlaufen würden, könnte man aus seiner Sicht den Druck auf Moskau erhöhen, das zu dulden. "Man kommt einer Lösung zumindest ein bisschen näher", sagt er. Ein wichtiges Signal sende der ukrainische Erfolg auch in Sachen Waffenlieferungen. "Die Ukrainer haben ihre Waffensysteme bei dieser Operation taktisch gut synchronisiert", sagt der Experte. Den Zögernden in Washington, Berlin und anderen europäischen Städten sollte das zeigen: Wenn man den Ukrainern Waffen liefert, wissen sie, wie man damit umgeht.

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Über den Experten:
Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmäßig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Außenpolitik bei Großmächten.
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