• Kinder und Jugendliche aus der Ukraine sollen möglichst schnell deutsche Schulen besuchen.
  • Wie das funktionieren kann, zeigt das Beispiel des Lessing-Gymnasiums in Berlin-Wedding. Ein Besuch.
Eine Reportage
Dieser Text enthält neben Daten und Fakten auch die Eindrücke und Einschätzungen von Fabian Busch. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Vor sechs Wochen haben Kirill und Nikolay noch ihr ganz normales Leben in der ukrainischen Hafenstadt Odessa gelebt. Jetzt stehen sie im Lessing-Gymnasium in Berlin vor dem Whiteboard und üben diese schwierige Sprache, die ihnen schon ganz gut über die Lippen geht. An diesem Tag lernen sie das Fragenstellen und die Namen der Schulfächer. "Wann hast du Musik?", fragt Nikolay. Kirill wirft einen Blick auf den Stundenplan, denkt kurz nach und sagt: "Ich habe Musik am Dienstag in der fünften Stunde."

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Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs sind rund 300.000 Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland registriert worden, viele von ihnen sind Kinder und Jugendliche. Sie sollen nun deutsche Schulen besuchen, damit sie ihre wertvolle junge Lebenszeit sinnvoll nutzen.

Einen Tag beriet das Kollegium – dann sagte der Schulleiter zu

Das Lessing-Gymnasium ist ein imposanter Altbau im migrantisch geprägten Berliner Ortsteil Wedding. Drei Tage nach Kriegsbeginn gab es eine Anfrage vom Oberschulrat, welche Schulen im Bezirk Klassen für ukrainische Schülerinnen und Schüler bilden würden. Schulleiter Michael Wüstenberg beriet sich einen Tag mit seinem Kollegium, dann sagte er zu. Drei Wochen später ging es schon los.

Was einfach klingt, ist im manchmal behäbigen deutschen Schulwesen keine Selbstverständlichkeit. Ein Raum musste gefunden, Lehrerstunden umgeschichtet werden. Bis Ende des Schuljahres werde man die Klasse weitgehend ohne zusätzliche Mittel stemmen, sagt Michael Wüstenberg. "Mit Engagement und Zusammenrücken." Für ihn und sein Kollegium ist klar: Das ist ihre Möglichkeit zu helfen. "Wenn wir jetzt hier stöhnen – was sollen denn die Ukrainer in Mariupol sagen?"

Vor allem Deutsch steht auf dem Stundenplan

13 Schülerinnen und Schüler bilden derzeit die sogenannte Willkommensklasse am Lessing-Gymnasium, es könnten in den nächsten Wochen aber noch mehr oder weniger werden. Ihr Alter schwankt zwischen 12 und 17. Doch das ist kein großes Problem, denn alle fangen in Deutsch praktisch bei null an. Deutsch-Unterricht macht den Großteil der mehr als 30 Unterrichtsstunden pro Woche aus. Die Klassenlehrerin und Sozialpädagoginnen sprechen mal auf Englisch, mal auf Deutsch mit den Schülern. Die helfen sich gegenseitig auf Ukrainisch oder Russisch. Klassenlehrerin Arberi Veselaj-Renaku ist begeistert, wie schnell viele lernen.

Die 30-Jährige hat sich freiwillig für die Klasse gemeldet – auch weil sie nachfühlen kann, wie es ihren Schülerinnen und Schülern geht. Sie selbst ist hierzulande geboren, ihre Eltern waren aber zuvor aus dem albanisch-sprachigen Teil des damaligen Jugoslawiens nach Deutschland geflohen. Sie hat als Schülerin selbst miterlebt, dass ihre fremde Muttersprache als Hindernis angesehen wurde. Ihrer Klasse will sie ein anderes Gefühl vermitteln. Am Lessing-Gymnasium ist das nichts Ungewöhnliches: Rund 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen haben eine andere Muttersprache als Deutsch.

Erst einmal in Ruhe ankommen

Es gibt auch Kritik am Konzept der Willkommensklassen: Die Geflüchteten würden so von den regulären Klassen abgesondert statt in die Schülerschaft integriert. Doch wer noch kein Deutsch kann, wird kaum dem Chemie- oder Geschichtsunterricht auf Deutsch folgen können. Arberi Veselaj-Renaku findet es richtig, wenn die jungen Menschen erst einmal in Ruhe ankommen können und Mitschüler haben, die ihre Muttersprache sprechen. Auch aus eigener Erfahrung. "Wenn man als einzelnes Kind in eine Klasse gesteckt wird, deren Sprache man nicht spricht, bekommt man schnell das Gefühl, dass man unterlegen und nicht gut genug ist. Ich habe damit heute noch zu kämpfen."

Das Ziel: ein Wechsel in die regulären Klassen

Kontakte zu den anderen Schülern gibt es trotzdem. Er habe schon Telefonnummern oder Instagram-Accounts ausgetauscht, erzählt Kirill. Manche Ukrainer verabreden sich mit deutschen Schülern schon für die Nachmittage oder spielen in den Pausen zusammen Schach oder Tischtennis. Bald soll zudem ein Patenschaftsprogramm starten. Er sei beeindruckt, wie schnell er aufgenommen wurde, sagt Nikolay.

Den Sport-Unterricht machen die Ukrainer mit einer regulären Klasse gemeinsam, auch Englisch lernen manche schon in anderen Kursen. Wer sprachlich fit genug ist, soll bald ganz in die regulären Klassen wechseln. Bis dahin steht aber sehr viel Deutsch auf dem Stundenplan, nach den Osterferien soll Mathe dazukommen.

Das Pensum für die jungen Ukrainer ist auf jeden Fall hoch, denn viele von ihnen haben am Nachmittag auch noch Fernunterricht ihrer ukrainischen Schulen. Viele Schülerinnen und Schüler aus Osteuropa seien jedoch sehr leistungsstark, sagt Michael Wüstenberg. "Die schauen Sie mit großen Augen an, die wollen wirklich lernen."

"Die Schule hilft mir, mich wohler zu fühlen"

Niemand weiß, wie lange dieser Krieg dauern wird. Daher kann auch Michael Wüstenberg nicht sagen, wie lange die Ukrainerinnen und Ukrainer am Lessing-Gymnasium bleiben. Einige werden wohl schnell zurückkehren in ihre Heimat, falls der Krieg für ihre Stadt glimpflich ausgeht. Sie werden dann womöglich noch ihren ukrainischen Schulabschluss machen. Doch andere werden länger bleiben. Wohin sollten die Familien auch zurück, wenn ihre Wohnhäuser zerstört sind?

Über die Erlebnisse und Ängste, über den Krieg spreche man bisher kaum, sagt Arberi Veselaj-Renaku. Manche aus der Klasse haben diese Themen von sich aus bereits angesprochen. Doch die Lehrerin will ihren Schülerinnen und Schülern diese Gespräche nicht aufzwingen. Sie sollen nicht auf ihre Rolle als Kriegsflüchtlinge reduziert werden.

Trotzdem bleibt es eine Ausnahmesituation, an die sich die jungen Ukrainer gewöhnen müssen. Sie wurden aus ihrem bisherigen Leben gerissen, müssen jetzt in einem fremden Land zurechtkommen, ohne zu wissen, was die Zukunft bringt. "Wenn ich ehrlich bin: Ich vermisse meinen Vater, meine Freundin und Freunde in Odessa", sagt Kirill auf Englisch. Aber er versuche, sich jeden Tag ein bisschen mehr an den neuen Alltag zu gewöhnen. "Dass ich hier zur Schule gehen kann, hilft mir, mich wohler zu fühlen."

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