Wenige Orte waren so einer Umweltverschmutzung ausgesetzt wie Mölbis vor dem Mauerfall 1989. 25 Jahre danach besuchen unsere Reporter den Ort, der als das "schmutzigste Dorf Europas" galt. Eine Geschichte des Wandels.

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Dichter Nebel legt sich über Mölbis. Kein Tau- und auch kein Herbstnebel. Der Dunst schimmert blau. Ein Geruch nach faulen Eiern liegt in der Luft, Phenol und Schwefel verpesten sie. Eine Schicht aus Asche und Ruß bedeckt die Dächer der Häuser. Eine Frau stellt eine Schüssel mit Wasser auf ein Fensterbrett. Wenige Minuten später ist das Wasser schwarz verfärbt. Auch heute kann sie die Wäsche nicht im Freien trocknen

Solche Szenen spielten sich früher in Mölbis an 200 Tagen im Jahr ab. Ein Kilometer südwestlich lag das Braunkohleveredelungswerk Espenhain. Wenn der Wind aus dieser Richtung blies, wurde der ganze Dreck direkt vom Werk nach Mölbis getragen. So erlangte der Ort die traurige Berühmtheit als "schmutzigstes Dorf Europas".

Rote, knackige Äpfel liegen auf dem Tisch: "Solche Äpfel hatten wir damals nie", erinnert sich Günter Wiegner (li.). Noch im Bild (von li.): Wolfgang Brand, Sigrid Brand und Redakteur Christian Aichner. © Andreas Maciejewski

Die Belastung durch das giftige Schwefeldioxid, das aus den Espenhainer Schornsteinen geblasen wurde, überschritt in den 1980er-Jahren den heutigen Grenzwert um mehr als das Zehnfache. Das war nicht nur eine Belastung für die Umwelt, sondern auch für die Gesundheit. Bronchitis und Asthma, ständige Kopfschmerzen und Übelkeit – darunter hätten viele Bewohner gelitten, erzählen sie heute. Auch Krebserkrankungen sollen in Mölbis vermehrt aufgetreten sein. Offizielle Zahlen fehlen jedoch.

Die Wende hat Mölbis gerettet

Die rund 6.000 Arbeitsplätze, die das Werk sicherte, waren für die DDR wichtiger als das kleine Dorf rund 20 Kilometer südlich von Leipzig. Deswegen sollte Mölbis verschwinden. "Es gab bereits den Beschluss, uns komplett umzusiedeln", erzählt der damalige Bürgermeister Ditmar Haym. Das war 1987. Bis 1993 sollte das Dorf geräumt werden, in den folgenden Jahren das nahegelegene Kohleabbaugebiet den Ort schlucken. "Man muss deutlich sagen: Nur durch die Wende gibt es unser Dorf überhaupt noch."

Mölbis war in den 1980er-Jahren ein "sterbender Ort", sagt Haym. Damals lebten nur noch rund 350 Menschen in Mölbis. In den 1940er-Jahren, als das Werk Espenhain den Betrieb aufnahm, waren es noch 1.000.

Selbst die Bewohner hatten ihr Dorf aufgegeben. Haym strengte wenige Monate nach dem Mauerfall im Januar 1990 eine Bürgerbefragung an: Fast 80 Prozent waren für die Umsiedlung. Auch Günther Wiegner und Sigrid Brand stimmten dafür. "Es war kaum auszuhalten. Wir galten als das dreckigste Dorf Europas – das sagt schon alles."

"Alles schmeckte nach Altöl“

Die beiden Rentner sitzen in der Gartenlaube von Familie Brand. Knackige, rote Äpfel aus ihrem Garten liegen auf dem Tisch: "Solche Äpfel hatten wir damals nie", sagt Wiegner. Wenn sich das Schwefelgas aus Espenhain mit Regen mischte, verätzte der saure Regen sämtliche Pflanzen. "Über Nacht waren alle Pflanzen wie verbrannt. Die Blätter sahen aus wie getrockneter Tabak", erklärt Wiegner. "Damals konnten wir eigentlich überhaupt nichts anbauen", ergänzt Brand. "Wir haben es trotzdem gemacht." Genießbar waren das Obst und Gemüse aber nicht: "Alles schmeckte nach Altöl."

Schwefeldioxidemissionen in der DDR
Schwefeldioxidemissionen in der DDR © 1&1 Mail & Media

Trotz der widrigen Bedingungen wollten sie eigentlich nicht wegziehen. Schließlich lebten sie seit ihrer Geburt in Mölbis. "Das Dorf hat immer zusammengehalten. Wir hatten einen tollen Fußballverein, einen Chor und drei Gaststätten – alles, was ein Dorf unserer Größe gebraucht hat", sagt Wiegner. Trotzdem wussten sie, dass ihr Dorf keine Zukunft mehr hatte, dass sie weg mussten.

Doch das mussten sie nicht. Nach der Wiedervereinigung wurde das Werk Espenhain nach und nach stillgelegt. Plötzlich waren nicht mehr die 6.000 Arbeitsplätze wichtig, der Umweltgedanke rückte in den Vordergrund. Um die Natur wiederherzustellen, wurden die von Schwefel und Phenol verseuchten Böden an manchen Stellen rekultiviert. Bagger begannen Anfang der 1990er damit, die Erde umzugraben. Sie lüfteten und tauschten das Erdreich aus.

Mölbis und die letzten "Schandflecke“

"Insgesamt hat die Sanierung von Mölbis – der Böden, der öffentlichen Infrastruktur und der privaten Häuser – rund 15 Millionen Euro gekostet", schätzt Haym. Heute sieht man kaum mehr etwas von der schmutzigen Vergangenheit. An der Hauptstraße reihen sich sanierte und frisch gestrichene Altbauten an bunte Neubauten. Die Fassaden leuchten blau, grün, gelb und weiß. Mittlerweile wohnen wieder über 550 Menschen in Mölbis.

Nur vereinzelt gibt es noch sanierungsbedürftige Häuser. Deren grau-braune Fassaden sind vom Schwefel zerfressen. Der Putz bröckelt. Manche Bewohner nennen sie die letzten "Schandflecke" von Mölbis.

Wo früher der Verursacher der "Schandflecke", das Werk Espenhain, stand, ist heute ein kleines Industriegebiet. Wo früher die abgetragene Erde des Kohleabbaugebietes lagerte, ist ein grünes Naherholungsgebiet entstanden. Dort wurden nach der Wende schnell wachsende Gräser und Bäume angebaut. Heute überwuchern sie die "Hochhalde Trages". Mölbis selbst ist eingekreist von Feldern. Die nächsten Dörfer sind nicht in Sichtweite. Raps, Zuckerrüben und Zwiebeln wachsen rundherum. Ironischerweise wirkt die Asche aus dem Werk Espenhain heute als Dünger.

Ein ganz normales Dorf?

Pascal Németh zog kurz nach der Wende mit seinen Eltern nach Mölbis. Mittlerweile ist der 34-Jährige einer der beiden stellvertretenden Bürgermeister in der Gemeinde Espenhain. Über Folgen der Umweltverschmutzung und eventuelle gesundheitliche Probleme machte sich seine Familie keine Gedanken. "Damals wusste man nicht genau, welche Auswirkungen die Luftverschmutzung haben kann", sagt Németh. Die Gründe für den Umzug waren ohnehin pragmatisch. "Hier gab es noch Grundstücke, dazu noch äußerst günstig", sagt er. Seine Familie wäre aber ins Grübeln gekommen, wenn die Umweltaufklärung damals weiter gewesen wäre, sagt er heute.

Németh schlendert durch die Straßen, die Hände in den Jackentaschen. Lange bleiben sie nicht darin. Ein Fahrradfahrer fährt vorbei. "Einer von unserer Feuerwehr", erklärt er und winkt. Kurz danach bremst ein Auto ab, bleibt vor Nemeth stehen. Der Fahrer kurbelt das Fenster herunter. Die beiden Männer grüßen sich, unterhalten sich kurz. Dann fährt der Van weiter. "Der Pfarrer unserer Gemeinde", sagt Németh. Jeder kennt jeden. Dorfleben eben.

Die Probleme, mit denen Mölbis heute zu kämpfen hat, unterscheiden sich kaum von anderen kleinen Dörfern. Der Bus hält nur zweimal am Tag im Ort. Ein Arzt fehlt. Der nächste Supermarkt ist kilometerweit entfernt. Von den drei Gaststätten blieb nur noch eine übrig. Den Chor und den Fußballverein konnte das Dorf zwar für sich bewahren, doch die Mitgliederzahlen sinken.

"Heute leiden wir unter den gleichen Problemen wie nahezu alle ländlichen Gebiete", sagt der ehemalige Bürgermeister Haym. Das größte Problem gehört aber der Vergangenheit an: Mölbis gilt längst nicht mehr als das "schmutzigste Dorf Europas".

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