Seit der EM steht die Deutsche Bahn nicht nur im eigenen Land in der Kritik. Verkehrspolitiker Detlef Müller kennt die Probleme der Bahn und schlägt einen Sonderfonds für Infrastruktur vor.
Wenn Detlef Müller überlegt, atmet er erst einmal laut aus. Er runzelt die Stirn, holt Luft und dann versucht er komplexe Dinge möglichst einfach zu erklären. So handhabt er es auch in Gesprächen mit Bürgern, sagt er. Regelmäßig werde Müller angesprochen, in der Bahn, beim Einkaufen. Ihn freut das, er will Politik erklären und in den Austausch gehen.
Müller ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD und verantwortlich für den Bereich Verkehr und Digitales. Er ist außerdem selbst Lokführer und kommt aus Chemnitz, also dem Teil des Landes, der laut Medienberichten bald weniger IC-Linien haben soll. Die Bahn dementiert diese Darstellungen. Aber der Konzern steht auch vor anderen Problemen.
Herr Müller, um es mit den Worten der österreichischen Fans auszudrücken: Ist die Deutsche Bahn am Oarsch?
Detlef Müller: Nein. In der öffentlichen Debatte wird viel verallgemeinert: Alle Züge kommen zu spät, Fans erreichen die Stadien nicht pünktlich. Es wird viel abgeladen bei der Bahn.
Aber?
Fakt ist, dass die Deutsche Bahn ihre Aufgaben nicht zu 100 Prozent erfüllt. Sie ist zu unpünktlich, zu unzuverlässig. Daran müssen wir arbeiten. Aber bei diesem Schwarz-Weiß-Malen, alles sei schlecht, mache ich nicht mit.
Wie meinen Sie das?
Es gibt Strecken, die funktionieren sehr gut, weil sie neu sind. Wir haben aber ein Schienennetz, das vollkommen überlastet ist. Vieles ist kaputt, vieles klappt nicht mehr. Diese Probleme haben alle ihre Ursachen: Es gab zu wenig Wartungskapazität, an allen Ecken fehlt Personal. Die Bürger erwarten, dass die Bahn funktioniert – und ganz ehrlich, damit haben sie auch recht.
Sie waren Lokführer und kennen die Deutsche Bahn und die Erzgebirgsbahn von innen. Wo liegen die größten Probleme?
In der Infrastruktur! Es fahren deutlich mehr Züge als früher, es sind mehr Menschen unterwegs. Das Streckennetz ist aber nicht mitgewachsen. Hinzu kommt, dass in den vergangenen Jahren viel zu wenig investiert wurde. Wir kommen nicht hinterher mit der Sanierung, deswegen wird es im kommenden Jahr einige Vollsperrungen geben. Anders können wir diesen Erdrutsch nicht aufhalten.
Bis 2027 sollen etwa 88 Milliarden Euro in die Bahn investiert werden. Wie konnte es überhaupt zu einem solchen Stau kommen?
Jedes Jahr wurde im Rahmen der Haushaltsverhandlungen festgestellt, dass die Bahn Geld braucht – genauso wie die Autobahn. Am Ende war es für beide Bereiche zu wenig.
Nach der EM soll das große Bahn-Sanierungs-Chaos losgehen. 2025 folgen weitere Streckensperrungen. Wie kann man dafür Verständnis bei den Bürgern wecken, die schon jetzt unter Verspätungen und Ausfällen leiden?
Das kann nur gelingen, wenn wir mit den Leuten reden und die Bahn bei den Korridorsanierungen, angefangen bei der Riedbahn, liefert. Hier ist auch der Vorstand der Bahn in der Pflicht. Ich habe das große Glück, dass mich ganz viele Menschen ansprechen. Im Zug, beim Einkaufen oder in der Innenstadt, überall werden mir Fragen gestellt. Dadurch habe ich die Chance zu erklären, welche Gründe es beispielsweise haben kann, dass es im Bordbistro keinen Kaffee gibt, warum Züge zu spät kommen oder Umleitungen fahren müssen. Wir haben einfach zu wenige Kapazitäten im Netz.
Das heißt, es gibt zu wenige Trassen?
Ja. Und dazu kommt in Deutschland, dass alle auf denselben Schienen fahren: Regionalverkehr, Fernverkehr und Güterverkehr. In Japan läuft das anders, da hat der Fernverkehr eine eigene Trasse. In der Bundesrepublik hat man sich in den 70er- und 80er-Jahren dagegen entschieden, eigene Trassen für den Hochgeschwindigkeitsverkehr zu verlegen.
Und diese Entscheidung lässt sich nicht revidieren?
Diesen Vorschlag könnten Sie ja mal einbringen. Ein Gewinnerthema ist das für viele nicht. Das Problem ist: Viele Menschen wollen keine Bahntrasse vor ihrer Tür. Es geht um Kompromisse und deshalb bauen wir das bestehende Netz aus und tun uns wahnsinnig schwer mit Neubaumaßnahmen.
War die Privatisierung der Bahn rückblickend ein Fehler?
Die Privatisierung hat Wettbewerb gebracht und dadurch die Qualität verbessert, gerade im Güter- und Regionalverkehr. Die Bahn gehört aber auch zur Daseinsvorsorge, das ist zu Beginn der Privatisierung aus dem Blickfeld geraten. Da ging es vor allem darum, die Bahn an die Börse zu bringen und Gewinn zu erwirtschaften – es wurde also an allen Ecken gespart. Rückblickend hätte der Gemeinwohlauftrag besser definiert werden müssen.
Laut des Verkehrsbündnisses Allianz Pro Schiene ist Deutschland "bahnpolitisch" abgehängt, das passt zu Ihren Ausführungen. Wie kann Deutschland zum Land der Schiene werden?
Mit der Bahn ist es wie mit dem Fußball: Jeder ist schon einmal Zug gefahren – und jeder hat schon einmal einen Zugausfall oder Verspätungen erlebt. Die Leute interessieren sich für die Bahn, ob im Positiven oder im Negativen. Das Interesse ist da und wenn es uns in den kommenden Jahren gelingt, das Streckennetz so zu sanieren, dass der Betrieb reibungslos funktioniert, ist das ein guter Fortschritt.
Der Spiegel-Artikel zum "abgehängten Osten" hat für viel Alarm gesorgt. Mittlerweile hat die Bahn dementiert, Pläne zur IC-Linienstreichung zu verfolgen. Was halten Sie von der Debatte?
Das ist typisch Deutsch.
Was meinen Sie damit?
Wir haben in Deutschland für alles eine Regel und eine Behörde. Für die Trassenzuweisung der Bahn ist die Bundesnetzagentur zuständig. Die kümmert sich um die sogenannte Marktfolgeabschätzung und fragt dafür die Eisenbahnunternehmen ab, welche Auswirkungen es für sie hätte, wenn der Trassenpreis auf eine bestimmte Höhe steigt und es keine Zuschüsse vom Bund gäbe. DB Fernverkehr hat pflichtgemäß gemeldet, dass in diesem Fall mit massiven Verlusten gerechnet und die Fahrpläne dementsprechend optimiert werden müssten.
Im Sinne von Linienstreichungen?
Auch eine veränderte Taktung wäre möglich. Die DB Fernverkehr hat 18 Linien gemeldet, bei denen eine solche Abwägung sinnvoll wäre. Dabei geht es um die Auslastung. Die Presse hat von diesen 18 Linien vier im Osten rausgezogen. Dabei wird erstmal gar nichts eingestellt, die Trassen für 2025 sind schon lange angemeldet. Aber klar ist auch: Das Szenario kann eintreten.
Mit Blick auf den Alarmismus: Ist uns als Gesellschaft die Ost-West-Debatte entglitten?
Es gibt Menschen, die verbreiten das Bild, dass der Osten nach der Wende von den Wessis nur betrogen wurde. Das stimmt so nicht, passt aber zur aktuellen Geschichte. Die Bahn würde auch in Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein Linien einstellen, weil sie unwirtschaftlich sind. Mit dem Osten hat diese Abwägung nichts zu tun. Diese Erzählungen bedienen ein Gefühl, das in der Gesellschaft vorhanden ist. Ich bin diese Ost-West-Diskussionen leid.
Viele Ihrer Politikkollegen sind auf die Geschichte aufgesprungen.
Die Politik hat mit Unverständnis und Entrüstung reagiert, das kann man machen. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow fordert direkt ein 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bahn, auch das ist als erster Impuls nachvollziehbar.
Braucht es ein solches Sondervermögen?
Wir haben Nachholbedarf bei der Bahn. Aber auch bei der Autobahn, bei Krankenhäusern, im Bildungssystem. Für die Infrastruktur wird ein dreistelliger Milliardenbetrag nötig sein. Aus dem normalen Haushalt werden wir das nicht finanzieren können, deshalb braucht es neue Finanzierungsformen für die Infrastruktur, beispielsweise durch einen Infrastrukturfonds.
Über den Gesprächspartner
- Detlef Müller ist seit 1990 Mitglied der SPD und kommt gebürtig aus Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz. Müller hat vier Kinder und war vor seiner Tätigkeit als Abgeordneter im Deutschen Bundestag Lokführer bei der Deutschen Bahn und der Erzgebirgsbahn. Er ist stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion und verantwortlich für den Bereich Verkehr und Digitales.
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