• Die Sicherheitslage ist angespannt: allein in diesem Jahr sind auf israelischer und palästinensischer Seite fast 70 Menschen getötet worden.
  • Welchen Plan die israelische Regierung vorantreibt und warum das Konfliktpotenzial gerade besonders hoch ist, erklären zwei Experten.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Der Krieg in der Ukraine hat viele internationale Konflikte in den Hintergrund treten lassen. Doch auch abseits des medialen Fokus haben vielerorts die Spannungen zugenommen. So steigt zurzeit wieder die Gewalt in Israel und Palästina.

Erst am Sonntag, 26. Februar, ist es nach einem tödlichen Anschlag auf zwei Israelis im nördlichen Westjordanland zu schweren Ausschreitungen israelischer Siedler gekommen. Ein Palästinenser wurde nach Angaben des Gesundheitsministeriums durch Schüsse tödlich verletzt.

Am Mittwoch davor (22.) kam es zum folgenschwersten israelischen Militäreinsatz im Westjordanland seit dem Jahr 2005. Mindestens zehn Palästinenser wurden getötet, mehr als 100 Menschen verletzt. Damit erhöht sich die Zahl der Palästinenser, die in diesem Jahr bei Anti-Terror-Einsätzen und bei Anschlägen getötet wurden, auf 59.

Todeszahlen auf Rekordhoch

Im vergangenen Jahr töteten israelische Streitkräfte laut Zahlen der Vereinten Nationen 187 Palästinenser im Westjordanland – so viele wie nie zuvor seit der systematischen Erfassung der Todesopfer im Jahr 2005.

Am Tag nach dem israelischen Militäreinsatz wurden vom Gazastreifen aus mehrere Raketen auf Israel abgefeuert, woraufhin das israelische Militär wiederum Luftangriffe auf den Gazastreifen flog. Dieser wird seit 2007 von der radikalislamischen Hamas kontrolliert.

Tel Aviv steht in der Kritik dafür, unrechtmäßig palästinensische Städte und Flüchtlingslager anzugreifen und Razzien durchzuführen sowie Häuser der Familien von verdächtigen Palästinensern zu versiegeln und abzureißen. Die Razzien des israelischen Militärs erfolgen in Reaktion auf eine Reihe von palästinensischen Terroranschlägen. Das Ziel der Einsätze ist es, weiteren Terror zu verhindern. Beim jetzigen Einsatz sollen drei Männer gesucht worden sein, die Mitglieder des Islamischen Dschihad und einer Terrorzelle in Dschenin im Norden des Westjordanlands sind.

Rechteste Regierung der Geschichte

Wie lässt sich das radikale Vorgehen erklären? "Mit der neuen israelischen Regierung haben sich die Vorzeichen noch einmal deutlich verändert. Es ist die rechteste Regierung der israelischen Geschichte", sagt Israel-Experte Peter Lintl. Die Regierung hebe darauf ab, den Konflikt mit den Palästinensern endgültig zu entscheiden.

"Sie will mindestens Weichen stellen, um sicherzustellen, dass auf dem Gebiet des Westjordanlands kein palästinensischer Staat entstehen kann und weite Teile dieses Gebietes im israelischen Staat verankert werden", analysiert Lintl. Von einer verhandelten Konfliktlösung sei man auf beiden Seiten sehr weit entfernt. Es handele sich jedoch um einen asymmetrischen Konflikt, in dem Israel machtpolitisch die wesentlich stärkere Kraft sei.

Eskalationspotenzial ist hoch

"Die Anzeichen für eine Eskalation sind massiv und die Anzeichen für eine Deeskalation sehr gering. Die Gefahr, dass wir in den nächsten Wochen Gewalt sehen, ist relativ groß", fürchtet Lintl. Auf israelischer Seite sehe man eine Regierung, die den Konflikt entscheiden wolle, die Siedlungen ausbauen wolle, die die palästinensische Bevölkerung in manchen Gebieten zurückdrängen wolle und die teilweise offen rechtsradikal sei.

Diese Einschätzung teilt auch Historiker Daniel Mahla. "Seit dem Zusammenbruch der Zwei-Staaten-Lösung und dem Ausbruch der zweiten Intifada erleben wir ein ständiges Lodern und Wiederaufflammen des Konflikts", sagt er. In Israel habe sich die Rechte immer weiter etabliert, die Linke und Liberale seien immer weiter geschrumpft. "Auch die palästinensische Seite hat sich abgewandt von der Lösung eines Konfliktes. Einerseits versucht im Gaza-Streifen die Hamas mit sehr militaristischen Mitteln Druck auf Israel auszuüben, andererseits geschieht dies über die internationale Boykottbewegung", erklärt er.

Hoffnungslosigkeit bei Palästinensern

Mahla sagt zu der explosiven Mischung: "Manche Kommentatoren prophezeien schon länger eine baldige dritte Intifada. Voraussagen sind sehr schwierig. Allerdings stimmt: Wir haben eine israelische Regierung mit extrem rechten Kräften und man beobachtet auf palästinensischer Seite eine hohe Hoffnungslosigkeit", sagt er.

Was zur Hoffnungslosigkeit beiträgt: Kaum einer wird belangt. Zwischen 2005 und 2021 stellte die israelische Polizei über 90 Prozent der Ermittlungen gegen Siedler, die Palästinenser angegriffen hatten, ein, ohne Anklage zu erheben.

"Aktuell kommt noch hinzu, dass der Ramadan kurz bevorsteht. In diesem Monat gehen viele gläubige Muslime zum Beten auf den Tempelberg und es könnte zu Gewaltausbrüchen kommen", sagt Mahla. Mit dem muslimischen Fastenmonat Ramadan fällt auch das jüdische Pessach-Fest und Ostern zusammen.

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Ramadan steht bevor

Schon im vergangenen Jahr hatte Israel die Sicherheitsvorkehrungen erhöht, aus Angst vor gewaltsamen Auseinandersetzungen zu Beginn des Fastenmonats Ramadan. Damals begann und endete der Ramadan blutig. Palästinenser erschossen damals einen jungen Wachmann im Westjordanland, der Anschlag wurde als heldenhafte Operation zum Ende des Fastenmonats gefeiert. Bei Festnahmen durch das israelische Militär kam es zu Toten.

"Die aktuelle israelische Regierung ist in einem großen Zwiespalt. Es ist schwer zu sagen, was da innerregierungstechnisch an Diskussionen abläuft, aber es ist klar, dass es Spannungen gibt zwischen Netanjahu und den rechten Koalitionspartnern", sagt Lintl. Viele Israelis würden Netanjahu zutrauen, für Sicherheit und für Ruhe zu sorgen, doch seine Koalitionspartner würden versuchen, stark auf Vergeltungsmaßnahmen zu drängen.

"Der Westen sollte noch deutlicher machen, dass die Provokationen und der Bau von Siedlungen, um einen palästinensischen Staat zu verhindern, ein No-Go sind", sagt der Experte. Die Israelis würden sich allerdings in der besseren Position sehen, wenn sie direkt mit Palästinensern verhandelten, als wenn internationale Vermittler, abgesehen von den USA, eingesetzt würden.

Über die Experten:
Dr. Peter Lintl arbeitet in der Forschungsgruppe "Nordafrika und Mittlerer Osten" bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Zu seinen Schwerpunkten zählen Israel, Deutsch-Israelische Beziehungen und Israelische Innenpolitik.
Dr. Daniel Mahla ist Dozent für moderne jüdische Geschichte an der Universität Haifa. Zu seinen Forschungsgebieten zählen Ultraorthodoxie und Nationalreligiöse in Israel, die Entstehung moderner jüdischer Politik, Religion und Staat in Israel, Israel und Europa sowie israelische Wahrnehmungen von Europa.

Verwendete Quellen:

  • Human Rights Watch: Israel: Kollektivstrafen gegen Palästinenser*innen

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