Der Dachverband der Tafeln in Deutschland ist alarmiert: Immer mehr Menschen stehen für Brot, Käse und Gemüse bei den Ausgabestellen Schlange. Vor allem Rentner sind zunehmend auf Lebensmittelspenden angewiesen - und Kinder.

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Immer mehr Bedürftige holen sich Lebensmittel bei den Tafeln, darunter viele Senioren und Kinder. Die Zahl der Menschen, die die Angebote regelmäßig in Anspruch nehme, sei nach einer Hochrechnung innerhalb eines Jahres um zehn Prozent auf 1,65 Millionen gestiegen, sagte der Vorsitzende des Vereins Tafel Deutschland, Jochen Brühl, am Mittwoch in Berlin.

2007 etwa seien es noch 700.000 gewesen. Scharfe Kritik übte die Organisation am Ausmaß der Lebensmittelverschwendung hierzulande - und fordert staatliche Unterstützung für die eigene Arbeit.

"Das ist sehr erschreckend"

Als "besonders dramatisch" bezeichnete Brühl einen 20-prozentigen Anstieg bei der Gruppe der Senioren. Niedrige Renten oder Grundsicherung im Alter seien hinter Langzeitarbeitslosigkeit der zweithäufigste Grund, warum Menschen zur Tafel gehen. Rund jeder vierte Kunde ist Senior.

"Das ist natürlich sehr erschreckend, weil wir wissen, dass viele Menschen, die Rentnerinnen und Rentner sind, sich oft schämen, Leistungen in Anspruch zu nehmen." Die Tafeln geben die Ware kostenlos oder gegen einen geringen Betrag ab.

Eine kürzlich veröffentlichte Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung zeigte, dass mehr als jeder fünfte Rentner in Deutschland in 20 Jahren von Altersarmut bedroht sein könnte. "Altersarmut wird uns in den kommenden Jahren mit einer Wucht überrollen", warnte Brühl.

Seit Jahren wiesen die Tafeln bereits auf das Problem hin - ohne "großen Wurf" aus der Politik oder einen gesellschaftlichen Aufschrei. Dabei gehöre das Thema "ganz oben auf die Agenda", tiefgreifende Reformen seien nötig, so der Vorsitzende.

Weniger Asylbewerber unter den Kunden

Alarmierend sei zudem, dass man auch zehn Prozent mehr Kinder und Jugendliche unterstützte als noch vor einem Jahr - insgesamt 500.000, so Brühl. Da wachse die "Altersarmut von morgen" heran.

Rückläufig sei hingegen die Zahl der Asylbewerber, die das Angebot nutzen - ihr Anteil sank von 26 auf 20 Prozent. 2018 hatte das Thema für Debatten gesorgt, als die Essener Tafel vorübergehend keine Ausländer mehr als Neukunden aufnahm.

Die Lebensmittelverschwendung in Deutschland - laut Tafel bis zu 18 Millionen Tonnen pro Jahr - nannte Brühl angesichts des Hungers auf der Welt "pervers". Wie bei der Armut könnten die knapp 950 Tafeln im Land das Problem nicht an der Wurzel packen, sondern nur lindern.

Appell an Verbraucher

265.000 Tonnen überschüssige, aber noch genießbare Nahrungsmittel sammeln 60.000 Ehrenamtliche im Jahr von Händlern und Herstellern ein. Ein typisches Beispiel sind Backwaren, die abends bei Bäckern übrig bleiben. Oft ist Ware auch nur falsch etikettiert.

Die von den Tafeln gesammelte Menge sei zuletzt unwesentlich gestiegen, hieß es. Um mehr Essen zu retten, wären demnach etwa mehr Kühlfahrzeuge und Lagerkapazitäten nötig. Auch weil sich Deutschland zu weniger Verschwendung verpflichtet habe, sei es an der Zeit, dass der Staat die Tafel-Arbeit finanziell unterstütze, sagte Geschäftsführerin Evelin Schulz. "In den meisten anderen europäischen Ländern ist das bereits der Fall."

In der Verantwortung seien auch die Verbraucher, betonte Brühl: "Klimaschutz fängt im eigenen Kühlschrank an." (dpa/mcf)

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