Die Wahl in der Türkei muss in eine nächste Runde, am 28. Mai findet die Stichwahl statt. Die Präsidentschaftskandidaten, Recep Tayyip Erdogan und Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, könnten unterschiedlicher kaum sein.

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In zwei Wochen muss sich die Türkei in der ersten Stichwahl ihrer Geschichte zwischen zwei äußerst unterschiedlichen Kandidaten - und zwei ebenso unterschiedlichen Zukunftsszenarien für das Land - entscheiden: dem amtierenden Präsidenten und Chef der religiös-konservativen Partei AKP, Recep Tayyip Erdogan, und dem Sozialdemokraten und Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu.

Keiner der beiden erreichte bei der Wahl am Sonntag die nötige Mehrheit, so dass sie am 28. Mai in einer zweiten Runde gegeneinander antreten. Die Türkei ist tief gespalten - die beiden Kandidaten könnten gegensätzlicher kaum sein.

Demokratie oder Alleinherrschaft?

Sollte er die Wahl gewinnen, will der Chef der sozialdemokratischen Partei CHP, Kilicdaroglu, eigenen Worten zufolge der Türkei die "Demokratie wiederbringen" und das von Erdogan eingeführte Präsidialsystem abschaffen. Künftig soll wieder das Parlament den Regierungschef wählen und die Amtszeit des Präsidenten auf sieben Jahre begrenzt werden. Der 74-Jährige hat zudem angekündigt "sämtliche demokratische Standards der EU" umzusetzen. Er verspricht die Freilassung politischer Gefangener und Meinungsfreiheit.

Auch Erdogan startete zunächst als demokratischer Hoffnungsträger - heute aber gilt er vielen im westlichen Lager als Totengräber der Demokratie. Nicht nur die Opposition, auch westliche Länder werfen dem Staatschef vor, in einen Autoritarismus abgeglitten zu sein - vor allem, nachdem er regierungskritische Proteste 2013 niederschlagen ließ. 2017 führte der 69-Jährige durch eine Verfassungsänderung das Präsidialsystem in der Türkei ein und weitete damit seine Befugnisse noch weiter aus.

Erdogan änderte den strengen Laizismus, trieb gigantische Infrastrukturprojekte voran und wandte sich außenpolitisch zunehmend vom Westen ab und dem Orient, Asien und Russland zu. "Wir haben das Land umgestaltet", rief Erdogan bei einer seiner letzten Wahlkampfauftritte vergangene Woche. Kritiker befürchten dass er bei einem Wahlsieg seine Macht weiter ausbauen, die Wahlen weiter aushöhlen und das Land in eine Art Diktatur führen könnte.

Türkei-Wahl: Recep Tayyip Erdogan liegt bei Türken in Deutschland vorne

Auch die türkischen Staatsbürger in Deutschland durften bei der Präsidentschaftswahl in der Türkei wieder mitwählen. Wie auch schon bei vergangenen Wahlen konnte Recep Tayyip Erdogan laut Berichten der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu wieder einen klaren Sieg feiern.

Charisma versus "stille Kraft"

Kilicdaroglu gilt als zurückhaltend und besonnen. Einmal bezeichnete sich Kilicdaroglu, der als Ökonom lange Jahre die Sozialversicherungsbehörde leitete, selbst als die "stille Kraft". Der schmale Mann mit dem grauen Schnurrbart brauchte einige Zeit, den richtigen Ton in seinen Reden zu finden, die von vielen als zu "weich" empfunden wurden.

Kritiker monieren dennoch, dass es Kilicdaroglu für das höchste Staatsamt an Charisma mangele. Kilicdaroglu will das Land nach eigenen Worten "mit Tugend und Vernunft" regieren - und positioniert sich damit als Anti-Erdogan.

Dieser hingegen wird von seinen Anhängern für sein Charisma bewundert. Der hochgewachsene 69-Jährige versteht es, die Menschen durch emotionale Reden mitzureißen, in denen er nicht selten nationalistische Gedichte oder aus dem Koran zitiert.

Sein Image als starker Mann ist jedoch angekratzt: Erdogan musste aus gesundheitlichen Gründen einen Wahlkampftermin absagen - politisch ist er schon länger angeschagen.

Erdogan wurde im armen Istanbuler Hafenviertel Kasimpasa geboren und strebte zunächst eine Karriere als Fußballer an, bevor er in die Politik ging. Dass er sich einen Palast mit tausend Zimmern auf einem bewaldeten Hügel in Ankara bauen ließ, hält ihn nicht davon ab, sich nach wie vor als "Mann des Volkes" zu präsentieren.

Welche Rolle spielt die Religion?

Erdogan gründete 2002 die islamisch-konservative AKP Partei mit, deren Vorsitzender er nach wie vor ist. Damit gab er erstmals der frommen Bevölkerung eine Stimme, die sich unter der Herrschaft säkularer Eliten jahrzehntelang unterdrückt und als Bürger zweiter Klasse fühlte, und verhalf vielen von ihnen zu Wohlstand. Erdogan selbst ist frommer Muslim und verkörpert traditionelle Familienwerte, er ist verheiratet und hat vier Kinder.

Kilicdaroglu steht seit zehn Jahren an der Spitze der CHP - der Partei von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Unter seiner Führung öffnete sich die einst streng säkulare, linksnationalistische Republikanische Volkspartei konservativen Kreisen und näherte sich den Kurden wieder an.

Auf die Gefahr hin, seine eigenen Reihen zu verärgern, schloss Kilicdaroglu nun Bündnisse mit rechten Parteien und nahm auch verschleierte Frauen in die CHP auf. Im April bekannte sich Kilicdaroglu erstmals öffentlich zum Alevitentum.

Als letzte Wahlkampfhandlung rief Erdogan seine Anhänger am Samstag zu einem gemeinsamen Gebet in der - 2020 von ihm per Dekret wieder zur Moschee erklärten - Hagia Sophia auf. Kilicdaroglu hingegen legte am Sonntag am Mausoleum von Atatürk, dem Gründer der modernen, laizistischen Türkei, rote Nelken nieder. (afp)  © AFP

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