Auswärtssieg für Erdogan: In der Türkei hat sich nur eine hauchdünne Mehrheit hinter das Präsidialsystem gestellt. In Deutschland hingegen votierten fast zwei Drittel der Wahlberechtigten für die Verfassungsänderung, die dem türkischen Staatschef deutlich mehr Macht verschafft. Wie kann das sein? Die Erklärung von Gokay Sofuoglu wirft kein gutes Licht auf die deutsche Integrationspolitik.
Nach dem vorläufigen Endergebnis der türkischen Wahlkommission votierten in der Türkei 51,4 Prozent der abstimmenden Türken für die Verfassungsreform. In Deutschland kam Erdogan auf 63,1 Prozent. In allen 13 Generalkonsulaten, denen die Wahlberechtigten in Deutschland zugeordnet sind, gab es mehr "Ja"- als "Nein"-Stimmen.
Warum unterstützen ausgerechnet diejenige, die in Deutschland die Vorzüge der Demokratie genießen können, Erdogan auf seinem Weg zum Autokraten? Gokay Sofuoglu, selbst türkischstämmiger Einwanderer und Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland, glaubt: aus Protest gegen ihre Situation in Deutschland.
Herr Sofuoglu, welche Erklärung haben Sie für das deutliche Ja der in Deutschland lebenden Türken?
Sofuoglu: Der Eindruck, die Türken seien in Europa nicht willkommen, sitzt tief. Die Menschen empfinden es als unfair, dass Länder wie Rumänien und Bulgarien, die wirtschaftlich schwächer sind als die Türkei, der EU beitreten durften, die Türkei aber nicht. Sie haben die NSU-Verbrechen erlebt, fühlen sich unsicher. Sie erleben im Alltag Rassismus, selbst Akademiker müssen sich im Bewerbungsgespräch für ihren türkischen Namen rechtfertigen. Die Menschen sind dem Irrtum aufgesessen, ein starker Erdogan würde ihnen auch hierzulande stärkeres Gewicht verleihen.
War das Abstimmungsverhalten also ein Protest gegen die Lebensumstände der Migranten in Deutschland?
Ich interpretiere das so. In jedem Fall hat das Gefühl der Ausgrenzung erst dazu geführt, dass Erdogan so viele Abnehmer für seine populistischen Aussagen gefunden hat.
Warum fühlen sich so viele Türken ausgegrenzt? Was läuft da schief?
Beide Seiten machen Fehler. Weil sie sich der Gesellschaft nicht zugehörig fühlen, ziehen sich viele Türken ins Private zurück. Deutschland muss ihnen klarmachen: Ihr seid hier willkommen, ihr seid hier sicher - aber im Gegenzug fordern wir von euch Beteiligung und Engagement.
Klingt vernünftig. Wo könnte man konkret ansetzen?
Die Politik muss mehr Mitbestimmung ermöglichen. Da gibt es viele Wege. Zum Beispiel ein kommunales Wahlrecht oder mehr Migranten in der Beamtenschaft.
Was kann jeder einzelne Deutsche beitragen?
Ich wünsche mir die Bereitschaft, sich mit türkischen Nachbarn, Bekannten und Freunden wirklich auseinanderzusetzen. Es reicht nicht, zu fragen, ob jemand für oder gegen Erdogan ist und sich dann ein Urteil zu bilden. Die Auseinandersetzung muss tiefer gehen. Deutsche könnten aus ihrer Geschichte heraus doch gut vermitteln, wie gefährlich ein Ein-Mann-System ist und welchen Wert die Demokratie hat.
Was wünschen Sie sich von den Türken, die hier leben?
Ich hoffe, dass die Mehrheit bei der nächsten Wahl reflektierter, vernünftiger entscheidet. Fehlende Chancengleichheit, Rassismus - die Probleme, mit denen sie hier kämpfen, können nur deutsche Politiker lösen, nicht Erdogan.
Der türkische Wahlkampf ist erst einmal vorbei. Können wir uns jetzt auf ruhigere Zeiten einstellen?
Wohl kaum. Ich befürchte eine neue Polarisierungswelle. Wenn man so will, hat Erdogan die Wahl verloren. Er hat eine riesige Kampagne gefahren, war acht Stunden am Tag auf 40 Fernsehkanälen präsent, hat die Opposition massiv diffamiert - und trotzdem fiel das Ergebnis extrem knapp aus. Erdogan weiß, dass die Wahl 2019 (Anm. d. Red: Erst nach der Wahl 2019 wird der Präsident sowohl Staats- als auch Regierungschef) kein Selbstläufer wird. Deshalb erwarte ich, dass er weiter auf Konfrontation geht.
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