• Können Schritte wie der Ausstieg aus der Istanbul-Konvention und die Verbotsbestrebungen gegen die HDP Erdogans Macht sichern?
  • Ein Experte sieht die Demokratie in der Türkei bereits massiv beschädigt.
Eine Analyse

Mehr aktuelle News finden Sie hier

Mehr aktuelle News

Eine Reihe von Entscheidungen der türkischen Regierung sorgt international für Irritationen. So ordnete Präsident Recep Tayyip Erdogan persönlich per Dekret den Ausstieg aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen an. Außerdem wurden Schritte zu einem Verbot der prokurdischen Partei HDP eingeleitet.

Gleichzeitig bekommt die Regierung die schlechte wirtschaftliche Lage nicht in den Griff. Nachdem Erdogan seinen vierten Zentralbankchef gefeuert hat, verloren türkische Aktien massiv an Wert. Die Inflation ist auf mehr als 16 Prozent angestiegen. Die Zustimmung für Erdogan und seine AKP befindet sich bereits seit längerer Zeit im Sinkflug.

Die umstrittenen Entscheidungen der jüngsten Zeit interpretieren viele daher als Erdogans Versuche der Selbstrettung. "Wir sehen bereits seit anderthalb Jahren, dass sich die Politik Erdogans primär auf den Machterhalt richtet und dass die Zeit lange vorbei ist, in der die AKP eine transformative Agenda verfolgt hat", sagt Günter Seufert, Türkei-Experte beim Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit, im Gespräch mit unserer Redaktion.

Positive Ansätze wie die Reformbemühungen im Zusammenhang mit der EU-Beitrittskandidatur, Dialoge mit der PKK und den türkischen Aleviten, die es in den ersten Amtsjahren Erdogans gab, sieht man schon lange nicht mehr.

Erdogan zielt nicht mehr auf breite Zustimmung ab

Dem liegt laut Seufert eine veränderte Strategie für Erdogans Legitimierung zugrunde. Er habe realisiert, dass es ihm heute nicht mehr möglich ist, die Mehrheit der Wählerstimmen in der breiten Bevölkerung auf sich und seinen Koalitionspartner zu vereinen. Stattdessen gehe es darum, die auf ihn eingeschworenen Wähler bei der Stange zu halten.

Vor diesem Hintergrund lässt sich ein roter Faden in den Maßnahmen der vergangenen Monate erkennen: Mit einem Verbot der HDP wäre er nicht nur mit einem Schlag die zweitgrößte Oppositionspartei los. "Die Initiative zum Verbot der HPD spricht auch die Wähler der MHP und die nationalistischen Wähler der AKP an. Sie ist aber nicht dazu geeignet, zusätzliche Wähler von anderen Parteien auf sich zu ziehen", erklärt Seufert.

Das gleiche gilt für den Ausstieg aus der Istanbul-Konvention. "Auch hier geht es darum, die hartgesottenen Stammwähler, die extrem konservativen und teilweise islamistischen Wähler fester an sich zu binden." Auch schon die Umwandlung der Hagia Sophia vom Museum zur Moschee sieht Seufert als einen Schritt, der dazu dienen sollte, die eigene Wählerbasis zu sichern.

Pläne zur Änderung des Wahlsystems

Gleichzeitig gibt es Pläne, in der Türkei ein kleinflächigeres Wahlsystem nach der Methode "the winner takes it all" einzuführen. Als immer noch stärkste Partei könnte die AKP durch eine solche Änderung des Wahlrechts auch bei einer sinkenden gesamtgesellschaftlichen Zustimmung die Mehrheit im Parlament behalten.

Mit der Entmachtung des Militärs nach dem fehlgeschlagenen Putschversuch 2016 glaube sich Erdogan nicht mehr auf die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung angewiesen, sagt Seufert. "Ein anderer Grund ist – und hier sehen wir Parallelen zu anderen autoritären Staaten wie Ungarn oder Polen –, dass sich über eine lange Regierungszeit Klientelnetzwerke herausgebildet haben." Über Korruption und parteiische Stellenvergaben in der Bürokratie würden Parteigänger bevorzugt.

Auch bei den umstrittenen Plänen zum Bau eines zweiten Kanals parallel zum Bosporus hätten einzelne Gruppen einen wirtschaftlichen Vorteil. "Vieles spricht dafür, dass wir es mit einem riesigen Spekulationsprojekt zu tun haben. Vermögende aus dem Umfeld der AKP waren natürlich vorher von diesen Plänen unterrichtet. Auch arabische Firmen haben kräftig investiert und bereits jetzt von den steigenden Bodenpreisen in den entsprechenden Gebieten profitiert", sagt Seufert.

Demokratie erheblich beschädigt

Durch diese Mechanismen sei die Demokratie in der Türkei nicht nur gefährdet, sondern habe bereits massiv Schaden genommen. Schon die letzten beiden Wahlen seien nicht fair und allem Anschein nach auch nicht korrekt abgelaufen: "Die Regierungspartei hat staatliche Mittel schamlos zur Unterstützung der AKP im Wahlkampf eingesetzt. Es hat damals schon Ansätze zur Kriminalisierung der Opposition gegeben. Und es bestanden bei den letzten beiden Wahlen erstmals in der Geschichte der Türkei ernsthafte Zweifel an der Korrektheit der Auszählung", sagt Seufert

Es gebe auch keine funktionierende Gewaltenteilung mehr. "Die Exekutive – sprich Erdogan – bestimmt nicht nur das Regierungshandeln, sondern auch die Politik im Parlament, dadurch, dass Erdogan gleichzeitig der Vorsitzende der größten Partei ist. Wir sehen außerdem, dass er einen großen Einfluss auf die Justiz hat." Die Freiheit der Presse und der Wissenschaft sei ebenfalls nicht mehr existent.

Auf dem Weg in die Diktatur?

Wirtschaftswissenschaftler rechnen mit einer wirtschaftlichen Erholung der Türkei im dritten Quartal. Seufert sieht hier einen Zusammenhang zur plötzlichen Entlassung des Zentralbankchefs. Erdogan wolle offenbar zu einer Politik des billigen Geldes zurückgehen, die dieser nicht mittragen wollte.

"Die Kreditmöglichkeiten werden ausgeweitet, um verstärkt durch das Ende der Pandemie und den dann vielleicht wieder einsetzenden Tourismus ein wirtschaftliches Strohfeuer zu erzeugen." Es könne sein, dass Erdogan die für 2023 geplanten Wahlen vorzieht, wenn sich ein solcher kurzlebiger Wirtschaftsaufschwung abzeichnet.

Momentan versuche Erdogan noch alles, um seine Position mit Wählerstimmen zu legitimieren. Was passiert, falls das nicht gelingt, sei unklar. "Aber wir sehen, dass der Sicherheitsapparat ausgebaut wird, dass neue Sicherheitsstrukturen geschaffen werden etwa mit den sogenannten Nachtwächtern, dass es in den großen Städten Polizeieinheiten geben soll, die direkt dem Palast unterstehen." Außerdem gebe es zumindest Berichte über inoffizielle paramilitärische Zusammenschlüsse.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Dr. Günter Seufert, Türkei-Experte beim Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit
  • BBC: Turkey Erdogan: Women rise up over withdrawal from Istanbul Convention
  • Zeit Online: Zehn Admiräle nach Kritik an Bauprojekt festgenommen
  • Handelsblatt: Türkische Zentralbank tastet Leitzins nicht an – obwohl das der Lira schaden dürfte
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.