Barack Obama bricht das Tabu: In einem Interview lässt der US-Präsident das Wort "Nigger" fallen - und Amerika schreit auf. Der Reflex zeigt, wie verwurzelt Rassismus noch immer in Teilen der Gesellschaft ist. Warum tun sich die USA so schwer mit diesem Problem?

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Er hat es ausgesprochen, einfach so: "Nigger" – und das als US-Präsident. In einem Interview mit dem Internetradio WTF redete Barack Obama über die Attacke auf eine von Schwarzen besuchte Kirche, bei der neun Menschen starben. Und er nutzte die Chance, um in die aktuelle Debatte um Rassismus in den USA einzugreifen: "Es geht nicht nur darum, dass es unhöflich ist, in der Öffentlichkeit 'Nigger' zu sagen", erklärte Obama. "Wir sind vom Rassismus nicht geheilt." Das Erbe von Sklaverei und Diskriminierung sei "noch immer Teil unserer DNA".

Der Ausdruck "Nigger" ist eine abwertende Bezeichnung für Schwarze. In den USA wird er deshalb als Tabu gemieden, Amerikaner sprechen vom "N-Wort", Medien piepen den Begriff aus – sogar bei Obamas Interview. Für den Präsidenten war das allerdings kein Grund, mit Kritik zu sparen. Denn seine Worte werfen ein Schlaglicht auf das Thema Rassismus in den USA. Und das hat in den vergangenen Monaten durch mehrere Vorfälle deutlich an Fahrt aufgenommen hat. Vorfälle wie der vom April, als ein weißer Polizist einen unbewaffneten Schwarzen erschoss. Schon wieder. Oder wie nun der Angriff in der Kirche in Charleston.

Diese Taten stoßen viele Fragen an: Wie verwurzelt ist der Rassismus in den USA? Und das 50 Jahre nach dem Ende der Rassentrennung – unter einem schwarzen Präsidenten. Wie steht es heute um die Aufarbeitung? Und was muss getan werden, um das Problem endlich zu überwinden?

Rassismus aus Angst um die eigene Existenz

"Amerika hat ein Rassismus-Problem – der Rassismus ist in Teilen der Gesellschaft noch immer tief verankert", sagt Michael Hochgeschwender, Professor am Amerika-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München. Das treffe freilich nicht nur die schwarze Bevölkerung, sondern auch Menschen mit lateinamerikanischer und spanischer Herkunft – die Hispanics. Auch Markus Kienscherf, Juniorprofessor am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin weiß: "Die Diskussion um Rassismus hängt sich meist an schrecklichen Einzelfällen auf. Aber das Problem geht viel tiefer." Hochgeschwender spricht deshalb auch von einem "Rassen- und Klassenproblem".

Denn: "Rassismus ist heute durch die wirtschaftliche und soziale Situation wieder stärker ausgeprägt. Die untere Mittelklasse – insbesondere die weiße – fühlt sich in ihrer Existenz bedroht." Ein gutes Beispiel für diese Beobachtung ist die Tea Party. Deren Angehörige sind häufig 40 bis 60 Jahre alt und gehören zu eben jener weißen unteren Mittelklasse. "Im Vergleich zu den sehr Reichen sind sie zunehmend hinten runter gefallen und suchen nun jemanden, der noch weiter unter ihnen steht", erklärt Hochgeschwender.

Armut ist dabei ein wichtiges Schlagwort. Viele Statistiken zeigen auch andersherum: Schwarze sind häufiger arbeitslos, schlechter ausgebildet und verdienen weniger. Und die Ungleichheit zieht sich durch. Das Pew Research Center fand heraus: Die Wahrscheinlichkeit, als Schwarzer verhaftet zu werden ist sechs Mal so groß wie als Weißer. Hochgeschwender kennt die verzerrten Bilder, die viele Amerikaner automatisch mit Schwarzen assoziieren, wenn sie sich vor Übergriffen fürchten: "Aufgrund des 'War on Drugs' hat es in den vergangenen zwei Jahrzehnten stark zugenommen, Schwarze als Drogenhändler oder -süchtige zu sehen, die in der Gegend herumziehen und arme weiße Leute ausplündern."

Über Jahrzehnte viel verbessert – aber noch immer Defizite

Dabei hat sich in den vergangenen Jahrzehnten durchaus einiges getan. "Man sollte nicht vergessen, dass die schwarze Bürgerrechtsbewegung viel erreicht hat. Verglichen mit der Situation der 1960er Jahre stehen die USA heute deutlich besser da", sagt Hochgeschwender. Und auch Amerika-Forscher Kienscherf ist überzeugt: "Die rassistische Vergangenheit ist in den USA sehr gut aufgearbeitet. Es herrscht dort auch ein größeres Bewusstsein für das Problem als zum Beispiel in Deutschland."

Die großen Mühen für mehr Rechte waren also nicht umsonst. "Heute läuft kaum eine amerikanische Fernsehserie mehr, in der nur Weiße mitspielen", nennt Hochgeschwender als einfaches Beispiel. "Inzwischen hat sich eine recht gut etablierte schwarze Mittelklasse gebildet, die auch eine akademischen Hintergrund – die aber trotzdem immer noch benachteiligt wird." Hochgeschwender erzählt dafür die plakative Geschichte eines schwarzen Mannes, der im Aufzug mit einer Gruppe weißer Frauen fährt und noch immer spürt, dass diese Angst vor ihm haben.

Nötig wären mehr Bildung, soziale und wirtschaftliche Reformen

Dass so etwas auch im 21. Jahrhundert mitunter noch zu spüren ist, liegt vor allem an der Bildung. "Es gibt sehr umfangreiche Studien über Sklaverei und die Wurzeln des Rassismus’. Im Schulunterricht fehlt das jedoch oft. Gerade wenn es um Geschichte geht, ist der Unterricht noch sehr patriotisch und dient vor allem dazu, eine positive nationale Identität zu fördern", sagt Hochgeschwender. Die Vergangenheitsbewältigung in den Schulen zu fördern, sei deshalb ein wichtiger Ansatz.

Außerdem sei es notwendig, die sozialen Probleme der USA anzugehen und Schwarze, Latinos und die Weiße der unteren Mittelklasse zu stärken. "Afroamerikaner und andere Minderheiten müssen den gleichen Zugang zu Ressourcen bekommen wie jeder andere auch. Dafür braucht es etwa Programme, um sie aus der Armut zu holen. Auch ist eine Reform des Strafrecht- und Polizeiapparats notwendig, damit diese Minderheiten nicht mehr so massiv verfolgt werden", sagt Kienscherf.

Barack Obamas Einfluss wird überschätzt

Doch solange sich die wirtschaftliche und soziale Situation nicht verbessert, rechnen Experten kaum damit, dass sich das Rassismus-Problem beseitigen lässt. Hochgeschwender vergleicht die aktuelle Debatte mit den unendlichen Diskussionen um das Waffenrecht: Immer wenn etwas passiert, würden alle aufschreien. Aber bis zur nächsten Straftat ändere sich doch wieder nichts.

Daran könne am Ende auch der Präsident nur bedingt etwas ändern – trotz seines Interviews mit dem N-Wort: "Obama diente der schwarzen Gemeinde gerade durch seine Reden als Identifikationsfigur. Allerdings wird die Rolle des US-Präsidenten leicht überschätzt. Er ist bei weitem nach innen nicht so mächtig, wie man immer glaubt. Veränderungen müssen aus der Gesellschaft selbst kommen."

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