Sie werfen sich gegenseitig die Verletzung der Verfassung vor und kämpfen um die Macht im Ölstaat Venezuela: Nicolás Maduro und Juan Guaidó. Dabei spitzen sich die politischen Spannungen und die humanitäre Lage im Land immer weiter zu. Auch die Weltgemeinschaft zerfällt in zwei Lager und droht mit Sanktionen bis hin zu militärischen Interventionen. Ist Venezuela das "neue Kuba" und droht ein Kalter Krieg 2.0? Südamerika-Experte Prof. Dr. Nikolaus Werz analysiert im Interview mögliche weitere Entwicklungen.

Ein Interview

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Herr Prof. Werz, vor fast drei Wochen sollte die zweite Amtszeit von Nicolás Maduro als Präsident der Bolivarischen Republik Venezuela beginnen. Wie hat sich die Lage seitdem entwickelt?

Prof. Dr. Nikolaus Werz: Die Lage hat sich weiter zugespitzt, mittlerweile steht Maduro in Form von Juan Guaidó ein "symbolischer" Präsident gegenüber. Am 23. Januar hat sich Guaidó, Abgeordneter der Volkspartei Voluntad Popular und turnusgemäß Präsident des 2015 frei gewählten Parlaments nämlich unter Berufung auf einen Verfassungsartikel zum Interimspräsidenten erklärt.

Die venezolanische Opposition und fast alle südamerikanischen Staaten gehen davon aus, dass die Präsidentschaftswahlen von 2018 nicht frei und fair waren. Der 23. Januar ist ein historischer Tag, denn 61 Jahre zuvor wurde die letzte Militärdiktatur in Venezuela durch eine zivil-militärische Allianz gestürzt. Viele Venezolaner protestieren angesichts der aktuellen Lage auf den Straßen und auch die Weltöffentlichkeit schlägt sich auf die eine oder andere Seite.

Die Regierung hat nun reagiert und die Konten von Guaidó eingefroren und ihm untersagt das Land zu verlassen. Gleichzeitig läuft für Maduro am Wochenende ein Ultimatum seitens der europäischen Länder aus. Bis dahin soll er einen Termin angeben, an dem Neuwahlen durchgeführt werden.

Ein Notizzettel des amerikanischen Sicherheitsberaters John Bolton, welcher nach einer Pressekonferenz deutlich lesbar war, nährte zuletzt Spekulationen über eine Militärintervention der USA. Für wie wahrscheinlich halten Sie diesen Schritt?

Das war eine taktische Drohgebärde. Die aktuellen Sicherheitsberater von Trump sind "Falken" - sie nehmen gegenüber Lateinamerika relativ interventionistische Positionen ein.

Das passt nicht ins 21. Jahrhundert und eine Militäraktion würde auch nicht zu Trumps Ankündigung passen, die USA aus der Weltpolitik zurückzuziehen. Sein aktuelles Handeln steht in diesem Sinne im Widerspruch zur Erwartung seiner Wähler.

Mittlerweile haben die Demokraten die Mehrheit im Repräsentantenhaus, womit er zusätzlich unter Druck gerät. Gleichzeitig sagt man auch dem Republikaner Marco Rubio, Senator aus Florida, eine Dirigentenrolle in der Venezuela-Krise nach, mit der er sich innenpolitischen Einfluss sichern möchte.

Für das Handeln der USA spielen komplizierte Verbindungen aus internen und externen Faktoren, wie der Ölreichtum Venezuelas, eine Rolle. Insgesamt halte ich eine Militärintervention für unwahrscheinlich. Wenn es jedoch zu Ausschreitungen gegen US-amerikanische Staatsbürger in Venezuela kommt, kann man nichts ausschließen.

Welche Szenarien könnten sich beim militärischen Einschreiten der USA entwickeln?

Die Lima-Gruppe hat sich klar gegen eine militärische Intervention ausgesprochen. Lateinamerikanische Staaten würden in einem solch hypothetischen Fall also nicht zusammen mit den USA handeln.

In der Vergangenheit war dies durchaus der Fall, etwa bei der Intervention 1965 in der Dominikanischen Republik. Die südamerikanischen Länder haben vor allem ein Interesse daran, dass Problem der venezolanischen Migration zu bremsen. Jede Art von Konfliktverschärfung vergrößert aber die humanitäre Katastrophe.

Die weitere Entwicklung hängt auch zu großen Teilen vom Militär in Venezuela ab. In welcher Form?

Offiziere oder Ex-Militärs nehmen ungefähr die Hälfte der Positionen in der Regierung ein. Das Militär hat sich seit dem gescheiterten Putsch gegen Chávez 2002 zur wichtigsten Stütze verwandelt und es bleibt gerade nach diesem Putschversuch unwahrscheinlich, dass sich die Generalität von der Spitze lossagt.

Es gibt allerdings einen Unterschied: Maduro ist im Gegensatz zu seinem Vorgänger Chávez kein Militär. Es gibt deshalb Spekulationen, dass die Militär-Führung Maduro möglicherweise fallen lässt und schon in Verhandlungen mit den USA eingetreten sei.

Das Ende von Maduro wurde aber bereits öfter angekündigt, sodass man mit solchen Überlegungen vorsichtig sein muss.

Ist bei einem Einschreiten des Militärs mit einer gewaltsamen Eskalation zu rechnen?

Ja. Dennoch: Die Situation in Venezuela hat sich jüngst zugespitzt, aber sie ist nicht neu. Es wird seit 15 Jahren demonstriert und es hat viele Tote gegeben - zuletzt wurden 2017 über 100 Studenten getötet.

Die Opposition hat sich nach dem verwegenen Vorgehen von Guaidó erstmals geeint gezeigt. Maduro wird versuchen wieder Verhandlungen anzubieten, eventuell seinerseits sogar Neuwahlen ankündigen. Sein Ziel ist es, die Opposition erneut zu spalten, um sich selbst an der Macht zu halten.

Besteht die Gefahr eines Ansteckungseffekts durch räumliche Nähe auf Nachbarn?

Die lateinamerikanischen Länder haben einem militärischen Eingreifen eine Absage erteilt. Bei der Einschätzung eines Ansteckungseffektes muss man Folgendes bedenken: Die Krise in Venezuela findet in einer Zeit statt, in der die links-populistische Welle bei Wahlen - mit der Ausnahme von Mexiko - eigentlich ausgelaufen ist.

In vielen lateinamerikanischen Ländern haben wir mittlerweile Mitte-Rechts-Regierungen. Übrig bleiben nur Venezuela, Nicaragua und Kuba. Der weitere Verlauf hängt zudem davon ab, wie sich die 20.000 bis 30.000 Kubaner in Venezuela verhalten.

Es handelt sich unter anderem um Militärberater und Geheimdienstleute. In ihrem weiteren Verhalten liegt ein erhebliches Konfliktpotenzial. Hinzu kommt die Rolle als "Chaosmacht": Venezuela hat sich fast zu einem "failed state" entwickelt, die Migrationsströme sind enorm.

Bergen die Migrationsbewegungen in die Nachbarländer weiteres Konfliktpotenzial?

Ja, in jedem Fall. Studien prognostizieren, dass sich in den nächsten Jahren bis zu fünf Millionen Venezolaner auf den Weg machen könnten. Das setzt die anderen südamerikanischen Länder enorm unter Druck.

Analysten vermuten, dass die Migrationsbewegungen vom Ausmaß die von Syrien übersteigen werden.

Die Weltöffentlichkeit ist in zwei Lager gespalten: Russland und Kuba sind Maduro beigesprungen, die USA und europäische Länder erkennen Guaidó als Präsidenten an. Liegt hier eine Parallele zum Kalten Krieg?

Nein, denn die Welt hat sich verändert. Auch wenn sich die gegenüberstehenden Lager vielleicht ähneln, kann man die aktuelle Lage nicht auf Sozialismus vs. Kapitalismus verkürzen.

Russland ist kein sozialistischer Staat mehr, China pflegt eine Mischung aus wildem Staatskapitalismus und autoritärer Herrschaft. Nur Kuba ist noch ein sozialistisches Land unter einer Personaldiktatur.

Es sind außerdem weitere Akteure wie die Türkei oder der Iran hinzugekommen. Die globale Situation ist heute komplizierter, sodass sich in der Verkürzung nicht zwei bipolare Mächte gegenüberstehen. China und Russland haben spezifische Interessen, die Venezolaner sind bei den Chinesen stark verschuldet. Hinzukommt der Handelskrieg mit den USA.

Oft wird auch vergessen, dass die Partei Voluntad Popular, aus der Guaidó kommt, Mitglied der Sozialistischen Internationale ist, die gerade in der Dominikanischen Republik getagt hat.

Sie sind also auch in keinem Fall uneingeschränkte Anhänger der USA. Die Konstellation ist global also viel unübersichtlicher und verstrickter. Solche Konflikte kommen in der multipolaren Weltordnung verstärkt auf uns zu.

Wie dürfte sich die aktuelle Lage in Venezuela entwickeln?

Die venezolanische Regierung gerät in den nächsten Wochen unter enormen Druck. Die USA haben die Konten erstmals wirklich eingefroren, sodass die Regierung kaum über flüssige Dollar verfügt.

Lebensmittelimporte können so nicht bezahlt werden, die humanitäre Katastrophe dürfte sich als unmittelbare Folge des Boykotts weiter verschärfen.

Maduro wird versuchen der Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er etwa von sich aus Neuwahlen ins Spiel bringt, um seine Gegner auseinander zu dividieren.

Das ist ihm bisher recht gut gelungen. Für die Opposition besteht die Gefahr, dass der Überraschungs-Moment, welchen sie am 23. Januar genutzt haben, verblasst und sie an Einfluss verlieren.

Den stärksten Rückhalt haben sie immer noch international und nicht national. Die reale Macht liegt weiterhin bei den Militärs und Maduro.

Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Nikolaus Werz studierte Germanistik, Geschichte und Politische Wissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Ein Forschungsaufenthalt führte ihn an das Institut für Entwicklungsstudien in Venezuela. Von 2005 bis 2007 war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft (DGfP).
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