Rentner sind die Gruppe, die von den Plänen der designierten Koalitionspartner Union und SPD am stärksten profitieren würde. Doch es gibt einen Haken: Vielfach kommen die Entlastungen nicht jenen zugute, die sie am nötigsten hätten, sagt ein Experte für Sozialpolitik. Mit der Stabilisierung des Rentenniveaus enttarnt er einen wesentlichen Punkt als Augenwischerei.

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Forscher des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) haben den Koalitionsvertrag von Union und SPD unter die Lupe genommen. Ergebnis ihrer Berechnung, die der "Süddeutschen Zeitung" vorliegt: Kommt das Bündnis zu Stande, sind Rentner die großen Gewinner. Von den vier untersuchten Altersgruppen würden sie mit Abstand am deutlichsten profitieren.

Auf 622 Euro pro Jahr beziffern die Ökonomen laut "SZ" das Plus, mit dem Menschen über 65 Jahren pro Haushalt rechnen können. Es ergibt sich vor allem aus folgenden geplanten Maßnahmen:

  • Das heutige Rentenniveau soll bis 2025 gesichert werden. Wer in Rente geht, soll nicht unter 48 Prozent im Vergleich zum letzten Lohn erhalten.
  • Es soll eine Grundrente geben: Wer 35 Jahre gearbeitet hat, soll eine Rente von zehn Prozent über der Grundsicherung erhalten, ebenso, wer zwischenzeitlich Kinder erzogen und Angehörige gepflegt hat.
  • Die Mütterrente soll steigen: Frauen, die vor 1992 mindestens drei Kinder zur Welt gebracht haben, erhalten einen dritten Rentenpunkt und damit rund 90 Euro mehr pro Monat.
  • Wer wegen Krankheit frühzeitig eine Erwerbsminderungsrente bekommt, soll so behandelt werden, als hatte er bis zum aktuellen Renteneintrittsalter gearbeitet.

Neben den über 65-Jährigen haben Menschen zwischen 26 und 39 Jahren Grund zur GroKo-Vorfreude. Zu ihrem Vorteil planen Union und SPD unter anderem ...

  • eine schrittweise Erhöhung des Kindergelds. Bis zum Ende der Legislaturperiode sollen es monatlich 25 Euro pro Kind mehr sein.
  • eine Erhöhung des Kinderzuschlags für Einkommensschwache.
  • ein sogenanntes Baukindergeld. Zehn Jahre lang sollen Familien 1.200 Euro je Kind und Jahr erhalten, um sich den Traum vom Eigenheim leichter verwirklichen zu können. Die Unterstützung soll bis zu einem zu versteuernden Haushaltseinkommen von 75.000 Euro plus 15.000 Euro Freibetrag je Kind gewährt werden.
  • eine Reduktion der Kita-Gebühren.

Den Ökonomen des ZEW und des IZA zufolge könnte die Altersgruppe der 26- bis 39-Jährigen künftig im Jahr pro Haushalt knapp 450 Euro mehr in der Tasche haben. Die Entlastung würde auf 740 Euro jährlich steigen, sofern die GroKo die Kita-Gebühren komplett abschafft. Im Koalitionsvertrag legen sich die Parteien dazu nicht fest.

Stabilisierung des Rentenniveaus kein Mittel gegen Altersarmut

Sind die Pläne von Union und SPD gesamtgesellschaftlich sinnvoll? Oder geht es gerade beim Rentenpaket vor allem darum, sich bei einer wegen des demografischen Wandels wachsenden Wählergruppe beliebt zu machen?

ZEW-Ökonom Holger Stichnoth wirft Union und SPD vor, mit den Rentnern "eine Gruppe, der es derzeit schon verhältnismäßig gut geht", übermäßig zu bevorzugen. "Das ist eine Zuspitzung, die ich so nicht teile", hält Rentenexperte Johannes Geyer vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung dagegen.

Er argumentiert: "Die Pläne zur Stabilisierung des Rentenniveaus haben keine sehr große Tragweite, sofern die Wirtschaft in Zukunft nicht deutlich schlechter läuft, als sie es aktuell tut." Wahrscheinlicher sei, dass die Konjunktur die Erwartungen erfüllt oder übertrifft, sodass das Rentenniveau bis 2025 ohnehin nicht unter die anvisierten 48 Prozent fallen wird. Die Maßnahme ist also ein Stück weit Augenwischerei.

Außerdem profitierten von einem stabilen Rentensystem langfristig alle, sagt Geyer - was ihn zu einem anderen Kritikpunkt bringt: Die Maßnahme ziele nicht auf die Schwächsten. "Die Stabilisierung des Rentenniveaus kommt allen Rentnern zugute und ist kein Mittel, um Geringverdiener vor Altersarmut zu schützen."

Verteilung nach dem Gießkannenprinzip

Einwände hat er auch gegen die Grundrente: "Sie ist eine bessere Sozialhilfe, weil auch sie einer Bedarfsprüfung unterliegt. Wer zum Beispiel einen Partner hat, der mehr verdient hat, der hat keinen Anspruch", sagt Geyer. Sinnvoller wäre es aus seiner Sicht, Menschen mit geringem Einkommen während ihrer Erwerbstätigkeit über Zuschüsse und Freibeträge so zu unterstützen, dass sie sowohl privat als auch über das gesetzliche System ausreichend fürs Alter vorsorgen können.

Auch das zusätzliche Geld für Familien würden Union und SPD überwiegend nach dem Prinzip Gießkanne verteilen, anstatt es gezielt den Bedürftigsten zukommen zu lassen, so Geyers Urteil. Eine Ausnahme sei der Kinderzuschlag für Einkommensschwache.

Höheres Kindergeld aber kommt auch wohlhabenden Familien zugute. Und wer schlecht verdient wird sich in vielen Fällen auch mit Baukindergeld kein Häuschen leisten können.

Dass die designierten Koalitionspartner bei den Kitagebühren ansetzen wollen, begrüßt Volkswirt Geyer grundsätzlich. Allerdings: "Weil kostenlose Betreuung für alle aber sehr teuer ist, muss man sich fragen, ob man Kindergärten wirklich für alle beitragsfrei anbieten muss, oder ob man besser sagt: 'Wer es sich leisten kann, soll etwas zuzahlen.'"

Wie günstigere oder kostenlose Kitas, gibt es auch die anderen Maßnahmen nicht umsonst. Die Erhöhung der Mütterrente würde den Ökonomen von ZEW und IZA zufolge mit rund 3,5 Milliarden Euro pro Jahr zu Buche schlagen. Um das Rentenniveau im Jahr 2025 stabil bei 48 Prozent halten zu können, halten die Experten zwischen vier und 15 Milliarden für nötig, Abhängig von der Konjunktur.

"Balance zwischen Arm und Jung" in Gefahr?

Geschenke für die einen müssen andere finanzieren. In diesem Fall würde es wohl in erster Linie aktive Erwerbstätige treffen, allen voran jene mittleren Alters. Ungerecht, sagen Kritiker.

EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU) etwa befürchtet laut "SZ", "dass wir uns immer mehr von einer Balance zwischen Alt und Jung entfernen".

Johannes Geyer sagt: "Die Babyboomer, die jetzt kurz vor der Rente stehen, sind sicherlich häufig Personen mit relativ stabilen Karrieren, die Vermögen aufgebaut haben und erben werden." Außerdem steige im Durchschnitt mit dem Lebensalter auch das Einkommen.

"Allerdings stimmt diese Tendenz nicht für alle." Je älter desto mehr Gehalt - das gilt Geyer zufolge im Western eher als im Osten. Je schlechter die Ausbildung, desto flacher die Kurve. Und auch zwischen den Geschlechtern gebe es Unterschiede, weil Mütter häufiger Teilzeit und seltener in Führungspositionen arbeiteten.

Unterm Strich kämen die geplanten Entlastungen also nicht nur Menschen mit sehr unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten zugute - sie würden auch Menschen mit sehr unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten stärker belasten.

Johannes Geyer ist promovierter Volkswirt. Am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung ist er als stellvertretender Leiter der Abteilung Staat tätig. Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Sozialpolitik mit Fokus auf die Bereiche Rente und Pflege.
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