Für die USA ist der 4. Juli, der Unabhängigkeitstag, normalerweise ein Tag des Feierns. Doch inmitten von Coronakrise und Anti-Rassismus-Protesten hätten sich die Amerikaner keine problematischere Kulisse für die diesjährigen Feierlichkeiten ausmalen können.

Ein Kommentar
von Julia Chatterley

Selbst in der wildesten Fantasie hätte man sich keine problematischere Kulisse für die diesjährigen Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag am 4. Juli ausmalen können.

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Wochenlange Proteste, erbitterte Debatten über Symbole der amerikanischen Vergangenheit und neue Kontroversen über den landesweiten Umgang mit der Covid-19-Krise führen dazu, dass sich jegliche Feier eines vereinten Landes bestenfalls widersprüchlich anfühlt. Die reichste Nation der Welt sieht sich außerdem mit einer längst überfälligen Abrechnung über die hässliche Ungleichberechtigung konfrontiert, die direkt unter ihrer sternenfunkelnden Oberfläche liegt.

Schon vor der Coronakrise wurde die wirtschaftliche Instabilität des Landes deutlich. Schätzungen zufolge waren 63 Prozent der amerikanischen Haushalte nicht in der Lage, einen 500-Dollar-Scheck auszustellen. Die Verschuldung der Haushalte ist seit einiger Zeit alarmierend; bereits im Jahr 2017 stellte das Institute of Policy Studies fest, dass fast jeder fünfte US-Haushalt entweder kein oder ein negatives Nettovermögen besaß. Es gibt wenig Grund zu der Annahme, dass sich dies seitdem wesentlich verbessert hat.

Unteren 50 Prozent der Amerikaner verfügen über 1 Prozent des Reichtums der Nation

Gleichzeitig war die Einkommensungleichheit noch nie so groß wie heute. Die ungleiche Verteilung des Reichtums des Landes wird durch die Tatsache verdeutlicht, dass die unteren 50 Prozent der Amerikaner lediglich über 1 Prozent des Reichtums der Nation verfügen, während die oberen 10 Prozent ganze 70 Prozent besitzen.

Anfang 2020 stellte das Pew Research Centre fest, dass sich das Einkommenswachstum in Richtung der Haushalte mit höherem Einkommen verlagert hat, während die Mittelschicht schrumpft. Der Anteil am Gesamtvermögen, der an Familien mit gehobenem Einkommen fließt, ist zwischen 1983 und 2016 von 60 auf 79 Prozent gestiegen, während sich der Anteil der Familien mit mittlerem Einkommen von 32 auf 17 Prozent fast halbiert habe. Bei den Familien mit niedrigem Einkommen sank ihr Anteil von 7 auf nur 4 Prozent. Jedes vierte Kind wird unterhalb der Armutsgrenze geboren.

Es stimmt, dass die Trump-Regierung vor der Pandemie auf Rekordbeschäftigungszahlen verweisen konnte, doch dies verschleierte ein anderes Thema: die Qualität der Arbeitsplätze. Nahezu die Hälfte der US-Arbeitskräfte ist in Niedriglohnjobs mit einem durchschnittlichen Jahresgehalt von weniger als 20.000 Dollar beschäftigt. Mehr als 70 Prozent der Amerikaner leben von einem Gehaltsscheck zum nächsten.

Dabei hat das Lohnwachstum nicht mit den kritischen Rahmenbedingungen Schritt gehalten. Die Wohnkosten sind in den letzten 20 Jahren astronomisch gestiegen, wie auch die Ausgaben für Gesundheitsversorgung und Bildung. Jegliche Lohneinkommensgewinne in diesem Zeitraum wurden davon mehr als gänzlich verschlingt.

Vermögensungleichheit ist natürlich kein rein amerikanisches Phänomen, aber sie widerspricht der Vorstellung des amerikanischen Traums. Im diesjährigen Bericht des Weltwirtschaftsforums zur globalen sozialen Mobilität wurden 82 Länder in fünf Kategorien bewertet: Bildung, Gesundheitsversorgung, Zugang zu Technologie, sozialer Schutz, und Arbeitsbedingungen. Die Vereinigten Staaten rangierten auf Platz 27. Was ist aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten geworden?

Die Gewinner gedeihen, die ärmsten Teilnehmer bleiben auf der Strecke

Meiner Meinung nach gewinnt Amerika den Preis für die gröbste Form des Kapitalismus; die Gewinner gedeihen, während die ärmsten Teilnehmer ständig auf der Strecke bleiben. Die Kombination aus einem Gesundheitssystem, das grundsätzlich an Beschäftigung gebunden ist, einem teuren Bildungssystem, der Duldung von Arbeit ohne Verträge oder Sozialleistungen, und der Ausrichtung von Unternehmen auf Gewinnmaximierung kann die Kluft zwischen den Besitzenden und den Habenichtsen nicht zuverlässig überbrücken.

Schlimmer noch, die Gebrechlichkeit des amerikanischen Systems wurde durch das Virus rücksichtslos entlarvt. 85 Prozent der Amerikaner sind in kleinen und mittelständischen Unternehmen beschäftigt. Ein Unterstützungsmechanismus, der sich darauf verlässt, dass diese Unternehmen Zugang zu Geld erhalten und ihre Mitarbeiter behalten, würde immer eine Herausforderung darstellen. Ende Mai bezogen mehr als 29 Millionen Amerikaner Arbeitslosenunterstützung; das Bureau of Labor Statistics vermeldete eine Arbeitslosenquote von 13,3 Prozent, während die Jugendarbeitslosigkeit bei über 25 Prozent lag.

Die Black Lives Matter-Proteste haben die Tatsache unterstrichen, dass die Wohlstandsunterschiede eine weitere Dimension haben. Studien zeigen, dass das Einkommen weißer Familien das der schwarzen Haushalte bei Weitem übersteigt, wobei letztere weniger als 60 Prozent des Einkommens ihrer weißen Kollegen mit nach Hause nehmen. Afroamerikanische Haushalte neigen auch dazu, stärker auf Niedriglohnjobs angewiesen zu sein und einen schwierigeren Zugang zu einer guten Ausbildung zu haben. Schwarze Männer landen in den USA auch häufiger im Gefängnis, was bestehende wirtschaftliche Probleme noch verschärft.

Die wirtschaftlichen Herausforderungen, vor denen die Afroamerikaner stehen, sind jedoch nicht auf diese Gruppe beschränkt. Tatsächlich ist die Gruppe mit dem größten Einkommensgefälle die der asiatischen Amerikaner. Und wie John Hope Bryant, der Gründer und Geschäftsführer der gemeinnützigen Operation Hope, mir kürzlich sagte, sind die größten Empfänger von Transferzahlungen, wie beispielsweise Sozialhilfe, tatsächlich weiße Amerikaner.

Bryant fasste das Thema während unseres Gesprächs klipp und klar zusammen: "Ich betone immer wieder: Es geht nicht um Schwarz oder Weiß wie bei der Rasse oder Rot und Blau wie bei der politischen Partei, sondern um die Farbe Grün (wie der Dollar, Anm. d. Red.), und davon wollen wir alle mehr haben".

Die Hope Foundation zielt auf eine größere finanzielle Inklusion in Amerika ab. Sie bietet jungen Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen kostenlose Dienstleistungen an und hilft ihnen, ihre Kreditwürdigkeit zu erhöhen oder sogar ein Haus zu kaufen. Die Antwort auf das gegenwärtige Unbehagen, glaubt Bryant, liege in einer Art Marshallplan, der auf die Geringstverdiener des Landes abziele. Das beginne, so Bryant, bereits bei der (Aus)Bildung.

"Man kann keine Weltklasse-Nation sein, wenn die Schulbildung mit der High-School endet. Das funktioniert einfach nicht", sagte er. "Die Hälfte dieses Landes hat lediglich eine High-School-Ausbildung. Kein Wunder, dass hier Vorurteile, Rassismus und Ignoranz herrschen."

Covid-19 legt Probleme offen

Märkte allein können jedoch die zugrunde liegenden Probleme nicht lösen. Auch dies hat Covid-19 offengelegt – und es ist die Schuld der aufeinander folgenden Regierungen, nicht nur dieser einen. Wie Professor Stiglitz mir letzte Woche erklärte: "Während wir auf die Krise reagierten, wurde uns klar, dass wir eine Regierung brauchen. Die Märkte werden sich nicht darum kümmern. Die Märkte konnten nicht einmal die Masken, Tests und Schutzausrüstungen herstellen, die wir brauchten. Aber eine Verunglimpfung der Rolle der Regierung, die 40 Jahre lang andauerte, hat dazu geführt, dass wir schlecht vorbereitet waren."

Covid-19 hat auch den wirtschaftlichen Einsatz für Amerika erhöht. Die Gefahr in jeder Krise besteht darin, dass die Unternehmen lernen, mit weniger mehr zu erreichen – und solche Lektionen bleiben in der Regel haften. Die Übernahme von Technologien und Innovationen in Bereichen wie im Homeoffice hat sich seit März beschleunigt, und die Automatisierung stellt für Arbeitnehmer mit niedrigem und mittlerem Einkommen jetzt vielleicht eine größere Bedrohung dar als je zuvor. Beides sind keine positiven Entwicklungen für diejenigen, die am unteren Ende der Einkommensleiter stehen oder keine Arbeit haben.

Gemäß den Worten von Martin Luther King stellt sich gerade jetzt die Frage: "Wie geht es jetzt weiter? Chaos oder Gemeinschaft? Die Armen sind nach wie vor die Mehrheit in dieser reichsten aller Nationen, und selbst die unterste Sprosse der Chancenleiter bleibt für viele unerreichbar.“

Der amerikanische Traum beruht auf einer einfachen Idee: Arbeite hart, und der Traum wird wahr. Irgendwo ist das verloren gegangen, und das Land hat eine wachsende Krise verschlafen. An Tagen wie diesen, an denen wir die Geburt dieser bemerkenswerten Nation feiern, ist es dringend und entscheidend, dass Amerika aufwacht und sich der alarmierenden Realität stellt.

Julia Chatterley ist Moderatorin und Korrespondentin für CNN in New York. Ihre Sendung "First Move with Julia Chatterley" läuft werktags um 15:00 Uhr auf CNN International (Mehr Informationen auf cnn.com)

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