• Es gibt kaum noch verfügbare Termine bei britischen Zahnärzten.
  • Viele Menschen können sich die Zuzahlungen zu Zahnbehandlungen nicht leisten.
  • Terminstau nach Corona und Unterfinanzierung des Systems sind die Hauptursachen der britische Zahnarztkrise.

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In Großbritannien einen Zahnarzttermin zu bekommen, ist derzeit schwer bis unmöglich. Viele Menschen fahren Hunderte Kilometer zur nächsten Praxis - oder können gar nicht behandelt werden. Einige behandeln sich sogar selbst. Eine deutsche Zahnärztin, die in England arbeitet, berichtet aus ihrem Alltag.

"Wir bekommen mehrmals täglich Anfragen, ob wir neue Patienten aufnehmen können", sagt Rosanna Pösl. Sie stammt aus Deutschland und arbeitet seit sieben Jahren als Zahnärztin in einer Praxis in Nottingham. "Man möchte nicht absagen, aber der Tag hat halt nur 24 Stunden." Neun von zehn Zahnarztpraxen in Großbritannien nehmen derzeit keine neuen erwachsenen Patienten mehr auf, meldete kürzlich die BBC. Acht von zehn Praxen würden demnach auch keine zusätzlichen Termine mehr für Kinder anbieten.

Überfüllte Praxen und schlechter werdende Zahngesundheit

Innerhalb des Landes ist die Situation sehr ungleich verteilt. "Je weiter man in den Norden des Landes kommt, je ländlicher es wird, desto größer wird der Zahnarztmangel. In London hingegen ist das Problem nicht so groß, weil es in einer Großstadt einfach mehr Zahnärzte gibt," sagt Zahnärztin Pösl. Zudem würden nachkommende junge Zahnärzte nur selten aufs Land ziehen wollen.

In der Region North Lincolnshire im Nordosten des Landes kommen statistisch auf eine einzige Zahnarztpraxis 3199 Patienten, wie Recherchen des Guardian ergeben haben. Die meisten Praxen hätten der BBC zufolge Wartezeiten von mehr als einem Jahr. Manchmal gebe es auch gar keine Wartelisten mehr. Eine Praxis in Norfolk hat derzeit 1700 Patienten auf ihrer Liste, und ein Zahnarzt in Cornwall kann sogar erst wieder in fünf Jahren einen Termin anbieten.

Derweil sinkt das Niveau der Zahngesundheit im ganzen Land immer weiter. Die British Dental Association (BDA) , die Vereinigung Britischer Zahnärzte, legte hierzu kürzlich besorgniserregende Zahlen vor. In den letzten zwei Jahren hätten nur 34,1% der Erwachsenen einen Zahnarzt gesehen. Im gleichen Zeitraum vor der Coronakrise waren es noch 49,6%. Unter Kindern in Großbritannien ging der Anteil derer, die einen Zahnarzttermin hatten, von 57% auf 44% zurück.

Viele Menschen können sich eine Behandlung kaum leisten

Großbritannien hat mit dem National Health Service (NHS), dem Nationalen Gesundheitsdienst, etwas Ähnliches wie die deutsche gesetzliche Krankenkasse. Aber anders als in Deutschland wird das britische Gesundheitssystem durch Steuern und nicht durch Beiträge finanziert. Gesundheitliche Leistungen sind wie in Deutschland grundsätzlich kostenlos, davon ausgenommen sind allerdings zahnärztliche Behandlungen. Wenn Menschen zum Zahnarzt möchten, müssen sie also immer etwas dazuzahlen. Daneben gibt es auch private Krankenversicherungen, welche sich die meisten Menschen aber nicht leisten können.

In der aktuellen Krisensituation sind Rentner und mittlere Einkommen besonders stark betroffen. Die meisten dieser Menschen fallen nämlich nicht unter eine staatliche Härtefallregelung, durch welche die Zahnarztversorgung kostenlos werden würde. "In der aktuellen Energiekrise sind viele Menschen schon am Limit mit dem, was sie sich leisten können. Wenn es um eine Krone oder Prothese geht, stehen 282 Pfund natürlich nicht einfach so zur Verfügung", sagt Zahnärztin Pösl.

Hinzu kommt dann noch der Terminmangel in den Praxen. So gilt aktuell: Selbst wenn Menschen an einen Termin kommen, müssen sie sich die Behandlung auch leisten können.

Unterfinanzierung des Gesundheitssystems und Abwanderung von Ärzten

Die Krise begann nach dem Höhepunkt der Coronakrise. In den schwierigsten Phasen der Pandemie mussten die Zahnärzte drei Monate lang schließen. Die in dieser Zeit angehäuften Termine müssten jetzt abgearbeitet werden, sagt Rosanna Pösl. Ein weiteres Problem ist die Finanzierung des Gesundheitssystems in Großbritannien. Gegenwärtig reiche die staatliche Finanzierung des Gesundheitssystems in der Zahnmedizin nur für 50 Prozent der Bevölkerung, so Pösl.

Ein Vergleich zu Deutschland, den das Medizinportal Heartbeat durchgeführt hat, macht die angespannte Lage besonders deutlich: Während auf einen Arzt in Großbritannien im Schnitt 277 Patienten kommen, sind es in Deutschland nur 217 Personen. Auch die Staatsausgaben sind unterschiedlich hoch: Im Jahr 2015 hatte Großbritannien umgerechnet 251 Milliarden Euro Gesundheitsausgaben, während der deutsche Staat im selben Jahr 344 Milliarden Euro in sein Gesundheitssystem fließen ließ.

Die Vereinigung britischer Zahnärzte BDA beklagt seit Langem, dass die Zahnärzte und Praxen innerhalb des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS zu schlecht finanziert seien. Staatliche Zuschüsse seien in den Jahren der Sparpolitik der letzten konservativen Regierungen immer weiter zurückgegangen. Dies alles führte zu einem Rückgang der Zahnärzte um zehn Prozent. Manch einer sei auch durch den Brexit wieder in sein Heimatland zurückgegangen. Die BDA spricht von einem "Jahrzehnt der Unterfinanzierung" und fordert eine Summe von jährlich 880 Millionen Pfund, um den Stand des Gesundheitssystems von 2010 wieder erreichen zu können.

Doch selbst wenn die Politik in Großbritannien sich zu einer größeren Reform der Finanzierung durchringen sollte, wird sich die Krise vorerst wohl trotzdem verschärfen. Denn durch den Terminstau und eingeschobene Notfälle werden gegenwärtig die Routineuntersuchungen nicht mehr ausreichend durchgeführt. Dieser Meinung ist auch Zahnärztin Pösl: "Je länger man die Routinen verzögert, desto mehr Behandlungen werden dann notwendig werden."

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Rosanna Pösl. Sie ist eine aus Deutschland stammende Zahnärztin, die seit sieben Jahren in Nottingham lebt und in einer Zahnarztpraxis arbeitet.
  • heartbeat-med.com: Gesundheitssystem in England und Deutschland im Vergleich
  • bbc.com: Full extent of NHS dentistry shortage revealed by far-reaching BBC research
  • guardian.com: Parts of England have one NHS dentist for thousands of people, data shows
  • bda.org: NHS dental statistics show a service on its last legs
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