Der Märchenfilm "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" ist ein absoluter Weihnachtsklassiker. Der Kommunikationswissenschaftler Jürgen Grimm erklärt, was der Kultstatus des Films mit aktuellen Krisen und gesellschaftlichen Veränderungen zu tun hat.

Ein Interview

Herr Grimm, der Film "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" wird im Dezember 15-mal im deutschen Fernsehen ausgestrahlt, auch im ORF läuft er an Heiligabend. Wie erklären Sie sich, dass der Film einen solchen Kultstatus erlangt hat?

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Jürgen Grimm: "Aschenbrödel" ist eines der bekanntesten Märchen der Gebrüder Grimm und hat eine besonders große Resonanz gefunden. Das ist der erste Faktor. Außerdem ist der Film 1973 auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges entstanden. Überraschenderweise hat es zu dieser Zeit eine Kooperation zwischen der DEFA und den tschechoslowakischen Filmstudios Barrandov gegeben, an der auch der WDR beteiligt war.

Während sich die Supermächte mit ihren Atombomben und Auslöschungspotenzialen bedrohten, wurde gemeinsam an einem Märchenfilm gearbeitet. Der dritte Faktor ist die inhaltliche Ebene. Märchen haben grundsätzlich eine moralische Seite und ein Thema, das alltagsrelevant ist. In "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" ist das unter anderem die Emanzipation der Frau.

"Seit Ende des 19. Jahrhunderts Zerfall der klassischen Familienstruktur"

Es wird ein für die damalige Zeit sehr modernes Aschenbrödel gezeigt…

Aschenbrödel kann besser Armbrustschießen als der Prinz, sie klettert auf Bäume und kann sich dort verstecken, ohne gefunden zu werden. Sachen also, die klassischen Rollenmodellen folgend eher Fähigkeiten von Jungen waren. Das passt natürlich in unsere Zeit besonders gut herein, in der der Feminismus im öffentlichen Raum eine große Rolle spielt. So werden die Kleinen gleich an dieses Thema herangeführt. Ein vierter Faktor ist, dass wir es im Grunde seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mit einem Zerfall der klassischen Familienstruktur zu tun haben.

Man könnte es positiv formulieren und von einer Ausdifferenzierung des klassischen Familienmodells sprechen. Es gibt einfach viel mehr Varianten. Spätestens seit der Industrialisierung war es keine Ausnahme mehr, dass es so etwas wie Stiefmütter oder Patchwork-Familien gab. Auch das ist ein Thema, das uns heute noch mehr beschäftigt, in den 1970er Jahren hat das noch nicht so eine große Rolle gespielt. Es sind neue Resonanzböden dazugekommen und es wirken uralte fort. So könnte man vielleicht formulieren, was den Erfolg des Films ausmacht. Und es gibt noch einen Grund.

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Welchen?

Aschenbrödel ist das Grimm'sche Märchen, das nicht nur als Ballett, Oper und Musical, sondern auch häufig als Film adaptiert wurde, darunter auch 1950 sehr prominent von den Walt Disney-Studios. Es gibt in den USA eine große Aufmerksamkeit dafür, es wirkt über den großen Teich hinweg und strahlt wieder zurück. Die USA sind das klassische Einwanderungsland aus europäischer Sicht gesehen.

In Einwanderungsfamilien sind Familienwerte besonders wichtig, weil sie in der Fremde zusammenhalten müssen. Diese Werte sind in dem Märchen verkörpert und werden gleichzeitig durch Umgebungsbedingungen bedroht. Denn Migration ist natürlich mit größeren Unsicherheiten behaftet, als es traditionelle Lebensweisen sind.

"Man könnte im positiven Sinne auch von 'Kitsch' sprechen."

Kommunikationswissenschaftler Jürgen Grimm

Der Film wurde kürzlich 50 Jahre alt. Ist es ein zeitloser Film?

Das könnte man sagen. Ich bin ziemlich sicher, dass es die erfolgreichste Märchen-Thematik ist. Vielleicht ist es am ehesten vergleichbar mit dem "Titanic"-Mythos. Wir bewegen uns in einem Genre, das im weitesten Sinne von Harmonie und Romantik getragen wird und dies mit negativen Themen wie sozialer Ungleichheit und Katastrophe assoziiert. Man könnte im positiven Sinne auch von "Kitsch" sprechen.

Und der gedeiht bekanntlich am besten vor dem Hintergrund von Horror. Der Untergang der Titanic hat eine Welle von harmoniesehnsüchtigen Kitsch-Reproduktionen ausgelöst. So ist es auch mit der Verunsicherung, die die Industrialisierung mit sich brachte und bringt. Wir erleben gerade die x-te Krise der Globalisierung, die mit immer neuen Erschütterungen einhergeht. Der Grundmechanismus besteht darin, dass wir das Negative, das uns widerfährt, in etwas Positives verwandeln. Aus Krieg wird Frieden, aus Ausbeutung wird Aufstieg.

Das ist keineswegs unrealistisch, auch wenn wir aufgrund von Krieg und Krisen - gerade angesichts der aktuellen Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen - manchmal am "Guten" im Menschen zweifeln mögen. Dabei lassen wir außer Acht, dass die Kooperationsfähigkeit der Guten schon deshalb über das Schlechte dominiert, da ohne das Zusammenwirken vieler gutwilliger Menschen nichts Überlebensrelevantes existiert, was sich zerstören ließe.

Daher gehört zum Menschsein zuallererst das Gute, das dann parasitär von Gewalt und Verbrechen unterbrochen wird. Eine Garantie, dass die Menschheit überlebt, existiert allerdings nicht. Die Auslöschung könnte schon total werden. Aber wir wollen an den Sieg des Guten und Konstruktiven glauben und haben auch gute Gründe dafür.

Dass wir in unruhigen, krisenhaften Zeiten leben, trägt also dazu bei, dass sich Menschen gerne die heile Welt eines Märchenfilms wie "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" anschauen?

Genau. Dabei geht es um Angstbewältigung. Die Psychologie sagt uns, dass es zwei Arten gibt. Die eine ist die Vogel-Strauß-Variante. Man versucht dem Schrecklichen auszuweichen, indem man Angstreize vermeidet oder sie märchenhaft im garantierten Happy End entschärft. Die andere Variante ist die Konfrontation, die etwa in Horror- und Actionfilmen Ausdruck findet und unser Standhaltevermögen stärkt.

Deshalb gehört "Stirb langsam" ebenso zum Weihnachtsinventar wie "Aschenbrödel". Letzteres hat mit Harmoniestreben und Angstvermeidung zu tun, das andere mit der Strategie, dem Schrecklichen ins Auge zu sehen. Wir haben ein Nebeneinander von Action-, Horror- und Romantikfilmen, bei denen einzelne Filme herausragen. Dazu gehört in der Abteilung Harmonie "Aschenbrödel". Der Film kann aber noch mehr als Angstmoderation, denn die Geschichte ist eingebettet in eine kulturelle Reflexion über die Widrigkeiten des Familienlebens.

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Durch die Ausdifferenzierung der Familienmodelle kommt es zu einer Zunahme von Unsicherheiten, die bearbeitet werden müssen und Lösungen erfordern. Das geschieht durch gesteigerte Harmonieorientierung und ein erweitertes Verständnis von Familie, die mehr umfasst als Blutsverwandtschaft. Es passt auch zur Weihnachtsthematik: Jesus Christus wird als Erlöser geboren und gibt ein Transzendenzversprechen in Form des ewigen Lebens.

Bei Aschenbrödel kommt das Aufstiegsversprechen hinzu. Die Unsicherheit, die sie erlebt, nachdem ihre Mutter gestorben ist, bildet eine Kontrastfolie dazu, dass der Prinz sie zu seiner Gattin macht, womit ein gesellschaftlicher Aufstieg verbunden ist. Das wäre die nächste Thematik, die bei Migration eine große Rolle spielt. Aber nicht nur bei Migration, sondern auch bei sozialen Verwerfungen, wie wir sie gegenwärtig vorfinden. Wir haben heute sogar noch eine größere Diskrepanz zwischen Arm und Reich, als das Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts der Fall gewesen ist. Diese Themen sind nach wie vor aktuell.

Ganz allgemein gefragt, warum schauen sich Menschen bestimmte Filme immer wieder an?

Wie gesagt, die romantische Seite ist angstdämpfend. Dies galt lange Zeit als Indikator für eine Flucht aus den "harten Realitäten" des Alltags, dass man sich also in Harmoniewelten begibt, die in diesem Fall mit der Heirat und dem sozialen Aufstieg in Verbindung gebracht werden. Das ist etwas, was gegenüber den selbst erlebten Widrigkeiten des Lebens entschädigt. Es ist zumindest eine zeitweilige Form der Tröstung und des Austretens aus der Alltagswirklichkeit. Früher hat man das Eskapismus genannt. Ich benutze diesen Ausdruck nicht so gerne, weil er meistens abwertend gemeint ist. Ich sehe es als sehr reelle Form der Angstbewältigung an, die buchstäblich eine "Erlösung" bringt.

Die Erklärung, warum sich Menschen solche Filme immer wieder anschauen, beinhaltet, dass sie sich davon eine Angstbewältigung versprechen. Dazu bedarf es einer rituellen Wiederholung vor dem Bildschirm oder in der Kirche, da die Angstbewältigung ein Ablaufdatum besitzt. Das gilt für den Märchenfilm ebenso wie für die religiöse Thematik. Es ist gut, wenn man für kurze Zeit aus dem Alltag ausbrechen kann und schon mal übt für die Transformationen, mit denen wir aktuell und in Zukunft zu tun haben. Zurzeit ist viel von der großen gesellschaftspolitischen Transformation die Rede. Die ist bei "Aschenbrödel" durchaus präsent im privaten und gesellschaftspolitischen Sinn.

Inwiefern?

Die eigene Familiengeschichte kann projiziert werden, aber auch die bereits angesprochene Variation der Familienmodelle. Ob das nun gleichgeschlechtliche Eltern mit Kindern sind oder Patchwork generell. Wir können Familie nicht mehr auf das eine heterosexuelle Eltern-Kind-Konzept reduzieren. Alternative Modelle hierzu waren 1973 vor allem im Westen progressiv, da dort noch nicht in relevanter Zahl vorhanden. In einigen Punkten war die DDR eben weiter als der Westen, dazu gehört die Emanzipation der Frauen, flächendeckend Kita-Plätze und andere Einrichtungen für junge Familien. Daher können wir von DDR-Märchen auch heute noch etwas lernen.

"Es gibt fast niemanden im deutschsprachigen Raum, dem das Märchen nicht mal begegnet ist."

Kommunikationswissenschaftler Jürgen Grimm

Wenn viele Menschen sich einen Film, eine Serie oder eine Show zur gleichen Zeit anschauen, spricht man von einem medialen Lagerfeuer. Spielt das bei "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" und den Weihnachtsfilmen eine Rolle?

Man weiß natürlich, dass der Nachbar das Märchen kennt. Es gibt fast niemanden im deutschsprachigen Raum, dem das Märchen nicht mal begegnet ist. Man weiß sich in einer großen Gemeinschaft, wenn man sich diesen Film anschaut. Insofern spielt auch das Lagerfeuer-Thema eine Rolle. Außerdem kommen zu Weihnachten alle zusammen, deshalb werden diese Filme dann ausgestrahlt. Die Familie ist in der Regel verteilt, nicht nur in der Patchwork-Situation, es ist auch eine räumliche Trennung. Zu Weihnachten versammeln sich dann in gewisser Weise alle um den Tannenbaum. Da ist ein solches Märchen hilfreich, da man es zur Unterstützung dieser Versammlung einsetzen kann.

Es gibt einige Kristallisationspunkte des Versammelns um das Lagerfeuer. Wenn ich an meine Kindheit in den frühen 1960er Jahren zurückdenke, war es damals der Film "Peterchens Mondfahrt", der mittlerweile ein Revival erlebt. Früher waren es noch die Karl-May-Verfilmungen, die aktuell aus Gründen der politischen Korrektheit von ARD und ZDF aus dem Programm genommen wurden und diese Funktion zumindest vorübergehend ganz verloren haben. Deshalb ist "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" von noch größerer Bedeutung, weil andere Filme weggebrochen sind.

Zu Weihnachten laufen immer wieder dieselben Filme, wie beispielsweise "Der kleine Lord" oder "Kevin allein zu Hause". Was verbindet diese Weihnachtsklassiker?

Die Traditionsbildung unterstützt das Versammlungsmotiv. Man weiß, was einen erwartet, wenn man zur Familie kommt und diese Filme zum x-ten Mal anschaut. Das ist ein familienpolitischer Aspekt der Versammlung. Eine inhaltliche Verbindung sehe ich durchaus auch, weil das Aschenputtel-Thema zum viel größeren Spektrum der "Kitsch"-Themen gehört - der Aufstieg, der im Glück endet, das Happy End als kulturpolitisches Phänomen.

Filme wie "Der kleine Lord" passen ebenfalls in diese Harmoniekonzepte, immer auch verbunden mit Unsicherheit und Krise. Auch "Das doppelte Lottchen" kann man dazu zählen, in dem sich zwei Mädchen in einer prekären Familiensituation befinden. Diese bedarf der Kompensation und der Bearbeitung, wenn man es positiv formulieren will. Wenn das innerhalb dieser Filme möglich ist, ist eine gewisse Wahrscheinlichkeit gegeben, dass der Film Kultstatus erlangt unter den Bedingungen der versammelten Familie.

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Über den Gesprächspartner

  • Jürgen Grimm ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien. Zurzeit hat er den Status eines Emeritus und leitet das Projekt "Communication Patterns of Radicalization" (COMRAD). Unter seiner Ägide führt die Forschungsgruppe Empcom am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft aktuelle Studien zur Coronakrise und dem russischen Krieg in der Ukraine durch. Er ist zudem Autor von "Höhlenkompetenz. Evolutionäre Ressourcen der Pandemiegesellschaft. Ein empirischer Disput".
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