Im neuen "Tatort" aus Hamburg muss ein genervter Kommissar Falke wider Willen das Verschwinden eines rebellischen Teenagers klären. Der stammte aus einer Militärdiktatur. "Tyrannenmord" kombiniert erfolgreich Politdrama mit klassischer Internatsgeschichte.
Gibt es eigentlich irgendwelche Geschichten, die im Internat spielen und nicht gut sind? "Hanni und Nanni", "Burg Schreckenstein", "Der Club der toten Dichter" und natürlich die "Harry Potter"-Romane: Ein Haufen eingesperrter Teenager in der Obhut von ein paar ignoranten Erwachsenen - da erzählt sich ein spannungsreiches Drama von ganz allein. Der neue Hamburger "Tatort" ist so ein Drama. Inklusive Nebelschwaden zwischen altem Gemäuer und herbstlichen Bäumen, was zur Kulisse von jeder anständigen Internatsgeschichte gehört.
Das Internat Rosenhag liegt eine Stunde von Hannover entfernt an einem idyllischen Fluss. Eine diskrete Institution, wo die Elite aus Politik und Wirtschaft ihren Nachwuchs erziehen lässt. Der Rebellischste dort ist allerdings erstmal Kommissar Thorsten Falke (
Der ist sowieso schon schlecht gelaunt, weil er während des Staatsbesuchs eines Diktators in Hamburg für Sicherheit sorgen soll. Da verschwindet der Sohn von dessen Botschafter. Und Falke wird nach Rosenhag geschickt, wo der 17-Jährige zur Schule geht. Ausgerechnet Falke, das Arbeiterkind mit dem Hüsker-Dü-Shirt, soll adrette Millionärstöchter und schuluniformierte Richtersöhne vor Reitställen befragen.
Und statt der geschätzten Kollegin Julia Grosz (
Ein stolzer Proletarier im Nobelinternat
Man brauche die richtigen Ermittler für diese heikle Mission, heißt es: Die Innenministerin ist sowieso schon gestresst, weil wirtschaftliche Interessen bei diesem Staatsbesuch so unpraktisch mit Menschenrechtsprinzipien kollidieren. Und ihre Freundin, die Internatsleiterin, legt größten Wert auf Diskretion, der gute Name sei schließlich das Kapital der Schule.
Entsprechend genervt beginnt Falke mit den Ermittlungen. Der stolze Proletarier hat so gar keine Geduld für das Selbstmitleid der pubertären Hobbysoziologen, die über das harte Schicksal klagen, aus Elternhäusern voller Geld, Macht, Einfluss und Erwartungshaltung zu stammen.
Und erst einmal sieht es tatsächlich nach Teenagerdrama aus: Juan wolle das Polittheater beim Besuch des tyrannischen Staatsoberhauptes nicht mitmachen, sagt sein Freund Andreas (Christian Erdmann), er werde schon wieder auftauchen, wenn die Show vorbei sei. Juans Freundin Hanna (Valerie Stoll) dagegen ist in Tränen aufgelöst, Juan würde doch nicht einfach so verschwinden, ohne sie.
Aber dann taucht ein Erpresserbrief auf, der die Entlassung oppositioneller Gefangener fordert und auf eine Entführung mit politischem Hintergrund hindeutet. Und welche Rolle spielt Juans Bodyguard Carlos?
Carlos ist die interessanteste Figur in "Tyrannenmord". Ein Vollprofi, der dem verliebten Pärchen überall hin folgen muss wie ein Hund – und sich von Juan behandeln lassen muss wie ein Hund. Und der sich wie ein Anfänger in der Nacht von Juans Verschwinden mit einem präparierten Kaffee betäuben ließ. Gekonnt lässt Darsteller José Barros hinter der stoischen Fassade die gezähmten Emotionen aufblitzen: den Ärger, die Angst vor den Konsequenzen, die Blamage.
"Tyrannenmord": Ein bisschen Sozialkritik hier, ein paar Klischees da
In gewisser Weise erscheint Carlos wie eine verwandte Seele Falkes. Beide sind Personenschützer, die es gewohnt sind, zugunsten höchster Professionalität private Ansichten zu unterdrücken. Und auch wenn Falke Carlos wie einen Verdächtigen behandeln muss und seine Vorbehalte gegenüber dessen Hintergrund hat – ebenso hat er Vorbehalte gegenüber den Motiven seiner eigenen Vorgesetzten und er kann Carlos' Verhalten besser einschätzen als jeder andere.
Letztlich aber darf sich Thorsten Falke anders als Carlos bei seinen Ermittlungen von seinem Instinkt leiten lassen – und dieser Instinkt sagt ihm, dass sich hinter dem Fall natürlich mehr verbirgt, als die gepflegte Fassade Rosenhags vermuten lässt.
"Tyrannenmord" ist ein von Drehbuchautor Jochen Bitzer gekonnt konstruierter Kriminalfall, den Regisseur Christoph Stark routiniert, mit Gefühl für Komik und atmosphärisch dicht in Szene setzt. Die überraschenden Wendungen lassen keine Langweile aufkommen, höchstens einmal ein Augenrollen, weil es scheint, als werde so ziemlich alles angeschnitten, was sich bei Internats-, Entführungs-, Dorf- und Politgeschichten so anbietet, ohne sich angemessen darum kümmern zu können.
Ein bisschen Sozialkritik hier, ein paar Klischees da. Aber auch "Tyrannenmord" beweist: Internatsgeschichten sind immer gut.
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