Nach dem Mord an einer Studentin, die mit Flüchtlingen gearbeitet hat, gerät Kommissarin Lindholm in ein politisches Minenfeld. Ein Krimi, dem es gelingt, zu unterhalten und zum Nachdenken anzuregen.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Iris Alanyali dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Eine junge Studentin ist umgebracht worden. Vergewaltigt, übel misshandelt, und dann im Wald weggeworfen wie ein Stück Dreck. Eigentlich sollte es zu den Grundrechten dieser Frau gehören, dass sie ihren Mord ohne Rücksicht auf Hautfarbe, Geschlecht und Herkunft des möglichen Täters aufgeklärt bekommt. Aber so einfach ist das nicht. Denn die beliebte, blonde Mira hat ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe gearbeitet und ein Zeuge will einen "dunkelhäutigen" Mann gesehen haben, der vom Tatort wegfuhr.

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"Tatort: Die Rache an der Welt": Gesellschaftlich schwierige Themen mit viel Fingerspitzengefühl

Polizeichef Liebig (Luc Feit) sieht die Schlagzeilen schon vor sich: Einerseits Rassismusvorwürfe, wenn man sich auf Migranten konzentriert. Andererseits "Gutmenschentum", wenn man so tut, als gäbe es den Sportplatz nicht, auf dem Mira zuletzt gesehen wurde und wo gerade ein Dauerfußballspiel stattfindet. Die Flüchtlingshilfe hat es organisiert: Zum Zwecke eines Weltrekords und der Völkerverständigung wollen Migranten und Göttinger Einheimische eine Woche lang nonstop Fußball spielen.

Aber zu Liebigs Glück beherrscht der "Wikinger" gerade die Schlagzeilen: Ein Serientriebtäter, der Göttingens Frauen terrorisiert, indem er sie mit einem Dolch zu sexuellen Handlungen zwingt. Bislang hat er sie allerdings immer am Leben gelassen. Trotzdem sollen die Kommissarinnen Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) und Anais Schmitz (Florence Kasumba) ihre Ermittlungen auf diesen Mann konzentrieren.

Wieso dieser Mann bislang nicht gefunden werden konnte, obwohl alle seine Opfer ihn – ebenso wie das Fernsehpublikum, das ihn in den ersten Krimiminuten zu Gesicht bekommt – doch gut beschreiben können müssten, ist eine der wenigen dramaturgischen Schwächen des klugen Drehbuchs von Daniel Nocke. Aber der "Wikinger" ist ohnehin nur Nebenfigur: In "Die Rache an der Welt" geht es darum, dass "jede Kultur ihre eigenen Arschlöcher hervorbringt", wie Miras Mitbewohnerin Jelena (Mala Emde) es Kommissarin Lindholm gegenüber ganz gelassen ausdrückt.

Zwischen Feminismus und Vorurteilen

Jelena zählt dazu zum Beispiel jene Männer, denen Mira in der gemeinsamen WG Küche-Deutschunterricht gab, die ihren eigenen Frauen das Recht auf Unterricht aber absprachen. Vielleicht gehören aber auch Männer wie Sportwart Henry Stropp (Sascha Alexander Gersak) dazu, der die Zusammenarbeit mit den weiblichen Flüchtlingen gerne mal zum Flirten am Rande des Fußballfeldes nutzt.

Auch Kommissarin Lindholms Ermittlungsmethoden sind fragwürdig: Eigenmächtig lässt sie die Täter-DNA auf die Herkunft untersuchen. Sie will rassistischen Vorurteilen mit wissenschaftlicher Expertise den Wind aus den Segeln nehmen – dabei ist die biogeografische Analyse gerade wegen ihrer Fehlerhaftigkeit und geringen Aussagekraft in Deutschland verboten.

Und was ist mit dem Ehepaar Kaul (Michaela Hanser und Jogi Kaiser), die bestimmt keine "Arschlöcher" sind, die in ihrem Haus Flüchtlinge aber mit einem Enthusiasmus aufnehmen, der sie ein wenig wie Zoowärter wirken lässt? Rassismus hat viele Gesichter und Nuancen, und der "Tatort: Die Rache an der Welt" packt das heikle Thema in einen anregenden und authentischen Film, bei dem die Krimihandlung nie wie ein bloßes Alibi für eine politische Botschaft daherkommt und bei dem auch Regisseur Stefan Krohmer nur selten in die Folklore-Falle tritt.

Das liegt vor allem an den Figuren (und ihren Darstellern), die ausnahmslos wirken, als lebten sie tatsächlich im echten Göttingen – oder einer beliebigen anderen mittelgroßen deutschsprachigen Universitätsstadt, in der das Miteinander von komplexen Menschen mit unterschiedlichsten Geschichten, Beweggründen und Wünschen täglich aufs Neue verhandelt werden muss.

Fazit: Trotz schlecht vorbereiteter Auflösung sehenswert

Nur die schlecht vorbereitete Auflösung des Falls enttäuscht angesichts dieser Sorgfalt. Aber geschenkt: Dem "Tatort" gelingt es unterhaltsam, die "Flüchtlingsfolklore", wie es im Film einmal treffend heißt, ins Blickfeld zu rücken: Dieses leicht gönnerhafte Interesse an einer fremden Kultur mit quasi-kolonialistischer Faszination, ein Mitgefühl, das schnell in wohliges Fremdgruseln am schwereren Schicksal der anderen umschlagen kann.

Erzählt wird auch, wie gefährlich nahe Hilfsbereitschaft an Machtmissbrauch liegen kann: Übergriffigkeit muss nicht immer sexueller Natur sein, die Annäherungsversuche einer deutschen Studentin an einen charmanten Flüchtling zum Beispiel können auch emotional Grenzen übertreten. Schade ist nur, dass ausgerechnet bei diesem Fall Kommissarin Anais Schmitz eher im Hintergrund agiert. Ganz nebenbei führt die "Die Rache an der Welt" dazu, dass man als Zuschauerin seine Haltung viel kritischer hinterfragt.

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