Der "Tatort" hat sich in die Sommerpause verabschiedet, in den kommenden Wochen sind sonntags Wiederholungen im Ersten zu sehen. Am kommenden Sonntag tötet im Kieler "Tatort: Borowski und der Fluch der weißen Möwe" die Polizeischülerin Nasrin mitten im Unterricht einen Freund. Die Kommissare Borowski und Sahin fühlen sich schuldig und streiten – fast wie ein Liebespaar.
Eins gleich vorneweg: Falls jemand auf die Idee kommt, zu Muttis Ehren gemütlich fernzugucken, dann eignen sich andere Programme wahrscheinlich besser. Ein Muttertags-"Tatort" ist das nicht (Erstausstrahlung des Falls war am Muttertag, 10. Mai 2020). Für solche Sentimentalitäten ist hier kein Platz. Es kommt auch keine einzige Mutter vor. Nur lauter Kinder, die versagen, als entschiedenstes Erwachsensein verlangt wird.
Polizeischülerin von Selbstmord-Einsatz traumatisiert
Die junge Polizeischülerin Nasrin Erkmen (Soma Pysall) gehört zu den taffsten ihres Jahrgangs, immer die schnellste, immer die verwegenste, bei allen beliebt. Dann hat sie mit ein paar Mitschülern einen Einsatz, bei dem eine junge Frau vor ihren Augen vom Dach eines Hochhauses springt. Den Abend überstehen Nasrin und ihre Freunde nur mit viel Party.
Am nächsten Tag steht ein Workshop der Polizeischule an, geleitet von den Kommissaren Klaus Borowski (
Nasrin spielt eine Ermittlerin. Eine Schülerin soll die Tote spielen und Sandro, einer aus Nasrins Clique, den Ehemann. "Du bist tot", sagt Kommissarin Sahin zum Opfer. "Du bist sehr traurig", sagt sie zu Sandro. Der macht Faxen, die Klasse lacht, die Lage ist entspannt.
Zwischen den freundlich grünen Wänden der Schlafzimmerkulisse ist alles herrlich klar, der Ablauf geplant, jeder bekommt gesagt, was er zu tun hat. Sogar als der Klassenkasper Sandro (Louis Held) improvisiert, sich Nasrin schnappt und sie mit einem Schraubenzieher bedroht, scheint noch alles unter Kontrolle: Eine verschärfte Gefahrensituation, eine größere Herausforderung! Wie spannend, spielen wir einfach mit.
"Tatort: Borowski und der Fluch der weißen Möwe": Mörderin Nasrin kann sich an nichts erinnern
Nur Nasrin kann plötzlich nicht mehr spielen. Nasrin flippt aus. Sie wehrt sich, greift sich den Schraubenzieher und sticht wie eine Wahnsinnige auf Sandro ein. Und dann ist Sandro tot, und alle konnten dabei zusehen. Sogar eine Kamera war dabei. Zu Schulungszwecken.
Die Suche in "Der Fluch der weißen Möwe" ist nicht die nach der Täterin, es ist die nach dem Ursprung der Tat. Nasrin kann sich an nichts erinnern. Ein Trauma hat sich Bahn gebrochen.
Schnell stellt sich heraus, dass die Nacht zwischen dem Selbstmord und dem Workshop etwas mit Nasrins Ausfall zu tun hatte, und dass Nasrins Clique, allen voran ihr Freund Tobias (Enno Trebs), etwas verschweigen.
Nasrin und die Selbstmörderin Jule (Caro Cult) sind im selben Viertel aufgewachsen, sie waren einmal beste Freundinnen, engste Vertraute voller Träume und Ambitionen. Dann ist irgendetwas passiert, und Nasrin wurde Polizeianwärterin und Jule drogenabhängig. Und jetzt ist Nasrin eine Mörderin.
Der ältere Kommissar Borowski klammert sich an seine Erfahrung, die ihm Gelassenheit geschenkt hat, und befragt die Polizeischüler. Die jüngere Kommissarin Sahin liest Bücher zum Thema dissoziative Amnesie, über traumabedingte Gedächtnislücken, und boxt sich die Wut über ihr Versagen aus dem Leib.
Es ist ein "Tatort" über junge Helden, die sich unbesiegbar fühlen. Die als Retter und Ritter selbstgewiss auf der richtigen Seite des Rechtes durchs Leben gehen wie durch die Straßen ihrer Stadt – und plötzlich erfahren, dass ihre Macht und ihr Können Grenzen haben. Dass das Leben noch viel anstrengender und komplizierter ist als all die Lehrbücher für angewandte Psychologie, Konfliktmanagement und Strafrecht ahnen ließen.
Kommissare Borowski und Sahin fühlen sich verantwortlich
Aber am spannendsten an diesem "Tatort" ist das Zusammenspiel zwischen Borowski und Sahin. Die Theatersituation, die der Workshop andeutet, wird von Axel Milberg und Almila Bagriacik auf weit höherem Niveau durch den ganzen Film getragen.
"Der Fluch der weißen Möwe" hat viele kammerspielartige Szenen, schon allein dadurch, dass Nasrin die meiste Zeit im Verhörraum sitzt. Doch die eigentliche Intimität entsteht zwischen Borowski und Sahin in der Ausnahmesituation, in der sie sich befinden.
Sie müssen hinter Nasrins Geheimnis kommen, nicht nur von Berufs wegen, sondern auch, weil sie eine Erklärung für die Katastrophe brauchen, die sich direkt vor ihrer Nase und unter ihrer Aufsicht abgespielt hat. Kommissare kommen immer zu spät, um die Tragödie zu verhindern, das liegt in der Natur ihres Berufs. Aber wenn zwischen Tat und Ermittlung so wenige Schritte und so wenige Momente liegen – dann geht es um mehr als Berufsehre, es geht um Seelenheil.
Borowski und Sahin fühlen sich mitverantwortlich, und deshalb teilen beide aus und stecken beide ein. Sie streiten miteinander und sie hören aufeinander. Beide hinterfragen die Methoden des anderen, und beide lassen sich zögernd hinterfragen. Der alte Hase und das junge Talent. Der beobachtende Einzelgänger und die leidenschaftliche Profilerin. Mehr als ein Team, weniger als ein Paar. Es ist besser als jede Liebesgeschichte, der man da zuschauen darf.
Diese Kritik wurde erstmals zur Erstausstrahlung des Kieler Falls am 10. Mai 2020 veröffentlicht.
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