Bei seinem zweiten Fall enthüllt das Göttinger Team mit Maria Furtwängler und Florence Kasumba geheime Forschungen bei der Bundeswehr. Und fängt plötzlich an, Stimmen zu hören
Wenn man diesem "Tatort" unbedingt etwas vorwerfen möchte, dann, dass sein Thema zu spannend, zu komplex für 90 Minuten ist. Dabei verliert "Krieg im Kopf" am Anfang überhaupt keine Zeit: Im Göttinger Kommissariat hält ein Mann Charlotte Lindholm (
Er redet wirres Zeug, Schmitz schießt. In seiner Wohnung liegt die Ehefrau erdrosselt in der Badewanne. Der sechsjährige Sohn hat sich im Wandschrank versteckt und in die Hose gemacht. Ein Bild des Elends. Da sind gerade mal sechs Minuten vorbei. Und der wirkliche Schrecken geht jetzt erst los.
Posttraumatische Belastungsstörung in bundesdeutscher Krimifolge
Der Mann war nicht verrückt, nur verzweifelt, weil er Stimmen hört, ständig Stimmen. "In meinem Kopf sind die", "die müsst ihr kriegen", "die sind schuld." Deshalb hat er sich an die Polizei gewandt, die ist schließlich Freund und Helfer. "Dafür seid ihr da", keucht er noch, fragend, fordernd, bevor der tödliche Schuss fällt.
Und Lindholm und Schmitz helfen ihm, posthum, weil sie nur so sich selbst helfen können. Stresstherapie in Eigenregie. Schließlich hätte die eine entweder durch ein Messer oder den Schuss der Kollegin sterben können, und die andere hat einen Menschen erschossen, der genauso gut die Kollegin hätte sein können.
PTSD, post-traumatic stress disorder, heißt das in Berichten über Kriegsheimkehrer und in amerikanischen Thrillern bekanntlich, hier wird es Posttraumatische Belastungsstörung genannt und mit beeindruckendem Geschick in eine bundesdeutsche Krimifolge gepackt.
Bundeswehreinsatz scheint schrecklich schief gelaufen zu sein
Der Tote, Benno Vegener (Matthias Lier), war Hauptfeldwebel und einer von vier Überlebenden eines Bundeswehreinsatzes gegen Islamisten in Mali, bei dem irgendetwas schrecklich schief gelaufen zu sein scheint. Zwei der anderen haben sich später umgebracht.
Die Vierte sitzt jetzt im Rollstuhl, lernt dank bahnbrechender neurotechnologischer Forschungen an der Universität Göttingen aber gerade wieder das Laufen. Lindholm und Schmitz stoßen bei ihren Ermittlungen allerdings auf Indizien, die darauf schließen lassen, dass computergesteuerte Einflussnahme auf das Gehirn für ganz andere Zwecke genutzt wurde - und wird.
Das unwahrscheinlichste Detail dieses Falls
Und um es gleich zu sagen: Dass die beiden unmittelbar beteiligten Kommissarinnen selbst weiter ermitteln dürfen, ist bei diesem Fall das unwahrscheinlichste Detail, das die Zuschauer zu akzeptieren bereit sein müssen.
Schließlich stammt das Drehbuch von Christian Jeltsch, inzwischen so eine Art "Tatort"-Fachmann für die düsteren Seiten von Computertechnologie und psychologischer Kriegsführung.
Jeltsch gelingt es auch hier wieder, gut recherchierte Fakten in spannende Stories weiterzudenken. Da gibt es zum Beispiel den vom Pentagon patentierten HyperSound, bei dem Schallwellen auf einzelne Individuen gerichtet werden können.
Das amerikanische Militär sagt, damit ermögliche man die vertrauliche Kommunikation zwischen Soldaten über Entfernungen von über einem Kilometer - aber was könnte man mit derart gezielten heimlichen Stimmen nicht noch alles anrichten.
Erfolgreiche Behandlungsmethode bei Schizophrenie
Eine andere Technik, die transkranielle Magnetstimulation (TKM), bei der bestimmte Bereiche des Gehirns mit Magnetfeldern stimuliert oder gehemmt werden, ist längst keine Science-Fiction-Utopie mehr.
In der Medizin gilt die TKM als erfolgreiche Behandlungsmethode bei Schizophrenie oder Parkinson. Das amerikanische Pentagon erforscht bereits seit Jahren, wie sich die TKM zur Leistungssteigerung und -verlängerung bei Soldaten nutzen lässt.
Der Traum vom Soldaten als unbesiegbarem Kampfroboter mit übermenschlicher Intelligenz und Ausdauer ist schließlich fast so alt wie Kriege selbst: Die Assassinen sollen sich bei ihren Kreuzzügen gegen Christen vor Tausend Jahren mit Haschisch euphorisiert haben.
Und über die Drogen, die die Nazis ihren Soldaten verabreichten, um sie wach und kampfbereit zu halten, und die später als Partydrogen Einzug in die Zivilgesellschaft fanden, gibt es ganze Bücher.
Mit Alufolie ausgekleideter Kellerraum
Unter der Regie von Jobst Christian Oetzmann wird aus dem futuristisch anmutenden Plot ein eleganter, cooler Krimi, der allen Vorwürfen, Verschwörungstheorien zu verbreiten, entgegentritt, indem er die Klischees geschickt in die Geschichte einbaut.
Der Kollege Leon Ciaballa (Jonas Minthe), der Lindholm in die - tatsächlich existierende - Militärforschung rund um TKM oder HyperSound einführt, zögert, weil er nicht als "Ciaballa balla balla" ausgelacht werden will.
Und der mit Alufolie ausgekleidete Kellerraum, den sich Vegener zum Schutz gegen die gegnerischen Gehirnwellen gebastelt hat, wirkt wie die Pappkulisse eines B-Movies aus den Sechzigern im Vergleich zu dem ultramodernen Forschungsinstitut, in dem sich Lindholm und Schmitz die neuesten Erfindungen für die Bundeswehr demonstrieren lassen.
Man muss schon ein sehr abgebrühter Science-Fiction-Fan sein, um an der Szene nicht seinen Krimi-Spaß zu haben.
Unbekannte Aspekte des neuen Ermittlerpaares
Zu den Stärken dieses "Tatorts" gehört aber auch, dass er sich nicht in glubschäugigem Staunen über all das tolle Techno-Spielzeug verliert, sondern es außerdem nutzt, um uns sehr menschliche oder unbekannte Aspekte des neuen Ermittlerpaares zu erzählen.
Schön, wie sich die vernunftfanatische Lindholm gegen die Stimmen in ihrem Kopf mit demselben energischen "Nein!" wehrt, mit dem sie einen inkompetenten Mitarbeiter maßregeln würde. Und die stoische Schmitz zeigt endlich eine Gefühlsregung, als "ihre" Stimmen sie an ihre Mutter denken lassen, die, wie wir erfahren, an Schizophrenie litt.
"Krieg im Kopf" ist der zweite Fall des Duos, und lässt ahnen, wozu dieses Paar fähig sein wird, wenn es seine Kräfte, seinen Starrsinn und seine Hartnäckigkeit bündelt. Gegen die Energie, die bei dieser Fusion entsteht, haben Übeltäter wenig Chancen, nicht einmal die beim Militär.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.