Eine Familie voller Holzfiguren: Der neue "Tatort" aus Wiesbaden dreht sich um den Mord an Kommissar Murots Philosophieprofessor. Vor allem geht es aber um die verkorksten Kinder des Gelehrten: Lars Eidinger in einer Paraderolle als exzentrischer Poetryslammer.

Eine Kritik
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Kommissar Felix Murot grübelt und philosophiert bekanntlich gern - und jetzt wissen wir auch, warum: Vor der Polizeischule studierte der Wiesbadener Ermittler (Ulrich Tukur) vier Semester lang Philosophie. Er sei jung gewesen und habe "verstehen" wollen, erklärt er seiner Assistentin Magda Wächter (Barbara Philipp) zu Beginn des neuen "Tatort". Dann habe ihm das Denken allein nicht mehr gereicht: "Ich wollte etwas tun".

Jetzt muss er den Mord an seinem früheren Philosophieprofessor aufklären. Wie zum Hohn liegt "Das Prinzip Hoffnung" neben dem Toten, und Murot wird melancholisch: Das Buch gehörte seinem Prof, der liebte das Werk des Philosophen Ernst Bloch. Ein poetisches Plädoyer für utopisches Denken, für das Tagträumen zum Zwecke der Weltverbesserung.

"Tatort" aus Wiesbaden: Kommissar Murot, der Denker

Jochen Muthesius war ein Stern am Frankfurter Philosophenhimmel, lernen wir von Murot, ein Star in der Tradition der Frankfurter Schule, also jener berühmten Wissenschaftlergruppe, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg unter anderem mit dem Widerspruch zwischen einer aufgeklärten Gesellschaft und der Barbarei der Nazizeit auseinandersetzte.

Aber nach einer Familientragödie verließ Muthesius Frau und Kinder und lebte fortan auf der Straße. Jetzt ist er das dritte Opfer eines Serientäters: Das erste war ein türkischer Gemüsehändler, das zweite ein chinesischer IT-Fachmann. Nun ein Obdachloser – küchenphilosophisch folgerichtig wird der Täter im rechten Milieu vermutet. Nur Murot, der Denker, hat eine andere Theorie: Es geht eigentlich um den Professor, die zwei anderen Morde sind nur zur Ablenkung.

Denn Jochen Muthesius war sehr wohlhabend. Folgerichtig konzentrieren sich die Ermittlungen auf die drei Kinder: Inga (Karoline Eichhorn), die Psychotherapeutin, Laura (Friederike Ott), die christliche Wohltäterin, und Paul (Lars Eidinger), den Dichter. Eine Mutter gab es auch einmal, aber die hat sich vom Dach des Hochhauses, in dem Inga lebt, in den Tod gestürzt.

Man muss weder Philosoph noch Psychotherapeutin sein, um zu erkennen, dass es sich hier um eine ziemlich beschädigte Familie handelt. Also wird jetzt therapiert, äh, ermittelt.

Polizeiarbeit verkommt zum Puppentheater

"Murot und das Prinzip Hoffnung" gerät zur kriminalistischen Systemaufstellung, inklusive den Holzpuppen, die in der Familientherapie verwendet werden, um das Verhältnis der Mitglieder zueinander zu beschreiben und die Familiendynamik aufzuzeigen. Murot kriegt auch so eine Holzfigur, denn er ging einst in der Muthesius’schen Villa ein und aus.

So wie der Nachbarsjunge Jürgen (Christian Friedel). Inzwischen trifft er sich lieber mit strammdeutschen Kameraden. Und seine schwermütige Mutter Franziska von Mierendorff (Angela Winkler) staubt im dunklen Nachbarhaus hochsymbolisch Bücher ab und legt zwischen holzgetäfelten Wänden Puzzles. Es dauert nicht lang, bis auch sie zu Holzfiguren werden.

In surrealen Spielszenen arrangiert Regisseur Rainer Kaufmann seine Darsteller wie solche Figuren auf einer Bühne. Und wie Therapeuten dürfen wir Murot & Co. von oben betrachten. Allwissend sind wir deshalb nicht – aber so viel können wir schon sagen: Mit Philosophie hat der Fall wenig zu tun, mit dem Krimi-Urmotiv "verkorkste Familie" dagegen viel.

Inga will Murot an die Wäsche, Laura ist mit Jesus zufrieden, der alte Muthesius wollte lieber Murot zum Sohn. Auf Paul hat er sogar einmal geschossen, das war der Anfang vom Ende. Und Paul – Paul ist der exzentrische Sohn, der die "Tatort"-Familie vor den Bildschirmen hält. Denn gespielt wird die Rolle, die einem Lars Eidinger auf den Leib geschrieben scheint, glücklicherweise von Lars Eidinger. Dem "stillen Gast" aus den Kieler Borowski-Tatorten, der hier den Mund gar nicht zukriegt.

Als poetryslammender Dichter Paul macht Eidinger großen Spaß. Schon, weil Pauls Wortakrobatik so überraschende wie witzige Bezüge zwischen Personen und Sachverhalten herstellt und für eine Dynamik sorgt, die der Krimihandlung eher abgeht.

Ein "Tatort" für Melancholiker und Wortakrobaten

Die Philosophie ist nur ein manierierter Weichzeichner, der Felix Murot in eine schwermütige Stimmung versetzt und den Kriminalfilm trotz all der hochkarätigen Darsteller schwerfällig macht. Lästig auch, wie Murot auf Schritt und Tritt von seiner tüchtigen Assistentin begleitet werden und Magda Wächter dieses Mal besonders unbedarft daherkommen muss, damit der philosophierende Kommissar dem tumben Wiesbadener Weib (und uns) die Frankfurter Welt der Dichter und Denker erklären kann.

Wie der Philosophenvater, der sich nicht genug um seine Kinder kümmert, verbringt das Drehbuch von Martin Rauhaus zu viel Aufwand damit, der Geschichte ihr philosophisches Gerüst zu zimmern. Das ist mitunter ganz amüsant und Murot-typisch ziemlich meta. Etwa, wenn Paul beim Anblick Murots über das deutsche "Tatort"-Ritual sinniert. Aber letztendlich verarbeiten hier verwöhnte Blagen ihre Kindheit unterm Über-Ich des egozentrischen Vaters.

Von wegen Hoffnung - hier wird vor allem in der Vergangenheit gewühlt. Das geht besonders im Falle deutscher Familien ja selten gut. In diesem Kriminalfall auch nicht.

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