Techno-Legende Maximilian Lenz alias Westbam nutzt die Corona-Auszeit für die Produktion eines neuen Albums – und entdeckt den Blues. Ein Interview über öde DJ-Sets, positive Aspekte von Corona und die Systemrelevanz von Techno.
Hatten Sie jemals eine so lange Auftrittspause wie jetzt in der Corona-Zeit?
Maximilian Lenz: Nein, das ist tatsächlich ein Novum. Seit ich 18 bin, habe ich fast jedes Wochenende aufgelegt.
Kollegen wie
Das habe ich nie so gemacht. Dieses "Hier bin ich kreativ und hier erhole ich mich" entspricht nicht so sehr meinem künstlerischen Ansatz.
Das DJ-Leben hat Sie also nicht geschlaucht?
Ach, nein. Klar kann das auch mal anstrengend sein, aber ich finde, da muss man die Kirche im Dorf lassen. Wenn ich zweimal pro Woche für zwei Stunden in einem Klub stehe und das zum Beispiel mit einem Dachdecker vergleiche - der arbeitet wesentlich härter und macht sich stärker kaputt. Wenn sich ein DJ beklagt, dass sein Leben so anstrengend ist, würde ich ihm raten, sich kurz umzuschauen und zu gucken, wie andere Leute ihr Geld verdienen.
Was haben Sie in den letzten Monaten mit der neu gewonnenen Zeit angefangen?
Ich arbeite, wie die meisten Künstler, an neuer Musik. Es wird ein neues Album geben, das im Januar erscheint – und ich glaube sogar, dass die Corona-Zeit die Qualität positiv beeinflusst hat. Denn ohne die Reisen konnte ich mich viel intensiver auf das Produzieren konzentrieren. Daneben habe ich eine wöchentliche Sendung bei Radioeins, auch für die habe ich jetzt viel mehr Zeit, wodurch ich das Format für mich nochmal neu erfunden und zu einer Art Hörspiel entwickelt habe. Ich fange auch plötzlich an, mich mit Dingen zu beschäftigen, für die ich mir sonst wahrscheinlich nie Zeit genommen hätte, Blues-Musik zum Beispiel. Seit Kindertagen habe ich Blues gehasst, gleichzeitig weiß ich, dass es einer der Ursprünge von Popmusik ist. Also habe ich mir ganz viel Blues angehört und bin jetzt richtiger Experte. (lacht)
Haben Sie sich in den letzten Wochen Videostreams von DJs angeschaut?
Ja, auch das. Das ist natürlich kein Party-Ersatz, aber einen Abend habe ich mir diverse solcher Streams angeschaut. Danach war ich etwas ernüchtert.
Warum?
Weil das meiste doch sehr uniform war. Ja, jeder spielt ein bisschen anders, aber insgesamt: Eine große musikalische Bandbreite habe ich da nicht gesehen, auch bei einigen großen Namen nicht, da hat mir oft die Überraschung, der erleuchtende Moment gefehlt. Und dann fehlt mir natürlich das Publikum. Für mich ist ein DJ-Set ein Gespräch mit den Tanzenden, die sind für mich der Input, ich beobachte die Leute und komme dadurch auf Ideen. Das fehlt jetzt natürlich, in den Streams ist das nur ein Monolog.
Abseits von Corona: Lässt sich eine Party überhaupt sinnvoll abfilmen?
Das kommt drauf an. Zum einen erlebt man es ja oft, dass das private Handyvideo von einer tollen Party die Atmosphäre und das, was man erlebt hat, überhaupt nicht einfängt. Auch die Live-Übertragungen, die es von der Love Parade gegeben hat, waren sehr statisch und haben das Gefühl vor Ort kaum transportiert. Auf der anderen Seite: Wir haben gerade das Video für meinen neuen Song "Sky Is The Limit" zusammengeschnitten. Gedreht hatten wir das bei meiner Geburtstagsparty, was für mich die letzte Party vor den Clubschließungen war. Und ich muss sagen, in diesem Zusammenschnitt kommt schon rüber, was ich an diesem Tag, auf dieser Party gefühlt habe.
Sie sind im August in einer ZDF-Sendung zu sehen, ansonsten kommt Techno jedoch nur selten in den öffentlich-rechtlichen Sendern vor. Würden Sie sich mehr Sendezeit wünschen?
Es liegt nicht unbedingt in meiner Natur zu sagen, wer mehr für einen tun müsste. Ich glaube auch nicht, dass das im Interesse einer Kultur ist. Wenn ich mir aktuell anhöre, was aus den Autos raustönt oder was auf dem Schulhof gehört wird, diese Art von Autotune-Ghetto-Rap – das kommt doch genauso wenig in der Medienrealität vor. Oder Heavy Metal, mit all seinen Subgenres, wo findet so etwas denn mal im Fernsehen statt? Nein, für mich gibt es keine öffentlich-rechtliche Verpflichtung, irgendeinen Musikstil abzubilden. Die Musikszene sollte aus sich selbst heraus leben, sich vor allem an die Leute richten, die daran Freude haben. Die bringen dann vielleicht irgendwann das Genre weiter, indem sie selbst Musik produzieren oder DJs werden. Darum geht es doch. Dass einem Millionen-Laufpublikum eine Musik nähergebracht wird – finde ich ok, aber nicht essenziell wichtig, für kein Genre.
Das ZDF hat Sie mit klassischen Musikern zusammengebracht. Wie oft waren Sie davor schon bei Klassik-Konzerten?
Mein Vater hat Klassik gehört, meine Mutter auch gelegentlich – und ich war zwei-, dreimal in der Philharmonie. Das ist aber schon einige Jahre her. Ich komme ja eher aus so einem antiautoritären und "geniale Dilettanten"-Hintergrund. Ein Instrument zu üben, wäre nicht meine Sache gewesen. Umso mehr bin ich heute fasziniert von Musikern, die durch viel Übung eine ungeheure Kunstfertigkeit entwickeln. Während ich bei der ZDF-Aufzeichnung nur ein bisschen mit meinen Filtern und Effekten spielte, habe ich die Musiker beobachtet, die dort mit so viel Präzision zusammen musizierten. Wenn zwölf Leute zu einem großen Klangkörper werden und in derselben Schwingung sind – das ist ein großartiges Erlebnis.
Haben Sie gelernt, Noten zu lesen?
Nein, ich kann weder Noten lesen noch ein Instrument spielen. Ich bin genau das Gegenteil von dem, was ein klassischer Musiker macht. Aber wie heißt es so schön: Gegensätze ziehen sich an.
Mit anderen Worten: Fürs erfolgreiche Produzieren von elektronischer Musik muss man keine Noten lesen können?
Nein, überhaupt nicht. Es ist ja Musik, die sich so auf dem Notenblatt nicht wiederfindet. Es ist Geräuschmusik und ihre Wirkung entsteht nicht allein durch Akkorde, sondern durch die Kombination von Klängen – und das lässt sich auf dem Notenblatt gar nicht abbilden. Klar, man könnte jetzt ein Lied von mir von einem Orchester spielen lassen. Aber das, was das Lied für sich ausgemacht hat, sind nicht die Noten, sondern eine sehr spezielle Soundauswahl.
Wie bezeichnen Sie sich? Als "Sound-Designer"?
Ich bin Konzept-Künstler und Geräuschmusiker.
Sie sind im Lauf Ihrer Karriere mit sehr unterschiedlichen Künstlern Kollaborationen eingegangen, von Benjamin Stuckrad-Barre über Jan Delay bis hin zu Drake. Sind Gesangseinlagen im Techno nicht eigentlich verpönt?
Ich sehe mich da in der Tradition von Kraftwerk. Ralf Hütter wurde mal gefragt, was das beste Instrument sei, worauf er antwortete: die menschliche Stimme. Sicher basiert ein großer Teil des Techno-Genres im Kern auf Bassdrum und Hi-Hat. Das hat auch seinen Charme, aber ein musikalisches Leben darauf aufzubauen, das war für mich nicht abenteuerlich genug. Ich lege auch mal einen unambitionierten Techno-Track auf, aber wenn ich mir vorstelle, ich müsste das mein ganzes Leben tun ... Nein, ich suche mir lieber immer wieder neue Möglichkeiten, damit Musik für mich ein Abenteuer bleibt.
Ist Techno denn heute "unambitioniert"? Zu eintönig?
Wenn ich jetzt an die DJ-Streams denke, die ich in der Corona-Zeit gesehen habe: Ja, das fand ich schon ein bisschen öde. Ich habe ja als junger Mensch von einer DJ-Kultur geträumt, 1984 habe ich dazu meinen ersten Text verfasst: "What is Record Art?" Zum Teil hat es sich dann auch durchaus in so eine Richtung entwickelt. Andererseits hat diese Kultur einige meiner Hoffnungen im kreativen Sinne eher enttäuscht.
Zu Beginn der Coronakrise wurde viel über "systemrelevante" Branchen gesprochen. Ist Techno systemrelevant?
Techno für sich gesehen vielleicht nicht, Kultur als Ganzes aber auf jeden Fall. Ich will Techno nicht kleiner reden als andere Facetten des kulturellen Spektrums, aber ich denke, wenn man einzelne Facetten weglässt, geht die Gesellschaft daran noch nicht zugrunde. Aber eine Gesellschaft ohne Kultur – ja, die geht zugrunde.
Gab es in Ihrem Leben Situationen, wo Sie sich mehr staatliche Unterstützung für elektronische Musik gewünscht hätten?
Nein. Ich habe jetzt in der Corona-Zeit das erste Mal in meinem Leben einen staatlichen Zuschuss bekommen. Daran hatte ich selbst gar nicht gedacht, sondern das kam erst, als mich meine Buchhaltung darauf aufmerksam gemacht hat, weil ja meine Einnahmen aufgrund des Gig-Verbots auf null gesunken sind, während viele Kosten weiterlaufen. Und da dachte ich: Ist doch toll, dass der Staat auch mal einem Künstler hilft, nachdem der Künstler dem Staat ja auch so lange schon geholfen hat (lacht). Im Allgemeinen bin ich aber der Meinung, die Kunst sollte auf eigenen Beinen stehen, nur ist das im Moment natürlich äußerst schwierig.
Klassik-Institutionen werden ja vom Staat sehr massiv unterstützt ...
... genauso wie viele Theater. Ja, das kann man problematisch finden, aber als Bürger und Steuerzahler sehe ich das ein. Noch schöner wäre es allerdings, wenn sich viel mehr Leute von sich aus mit so einer Kunstsparte beschäftigen würden und sie dadurch auf weniger Zuschüsse angewiesen wäre. Dann wäre es eine bessere Welt.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.