Das Hotel "SO/ Berlin Das Stue" hat einen eigentümlichen Namen, gilt aber dennoch als eins der interessantesten touristischen Beherbergungs- und Verpflegungsbetriebe der Hauptstadt. Hier im "The Stue" wie fancy Berliner, Amerikaner mit Design-Hotelguide als Reiselektüre und Supermodels sagen, geht das 20-jährige Jubiläum von Kilian Kerner als Modedesigner in seine heiße Phase. 48 Stunden vor der großen "Herz im Kopf"-Kollektionspremiere während der Berliner Fashion Week, die gleichzeitig zwei Dekaden Kilian-Kerner-Mode zelebriert, findet hier das große Fitting statt.

Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Marie von den Benken dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Fitting, das klingt für Fashionbranchen-Laien auf den ersten Blick nach kalorienabbauorientiertem Breitensport. Kenner der Modeszene wissen jedoch sofort: Hier werden Models einbestellt, der Designer probiert an ihnen seine Looks aus und legt fest, wer welche Kleider tragen wird.

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In herkömmlichen Textilhandelsgeschäften würde man das vielleicht Anprobe nennen, aber wir sind professionelle Fashion-Bubble-Protagonisten und dementsprechend sagen wir Fitting statt Anprobe. Das ist nur konsequent, denn immerhin sagen wir ja auch Fashion Week zur Modewoche und "Ja klar, ist super deine neue Kollektion" statt "Alter, was für ein Schrott ist das denn, dem fällt ja wirklich gar nichts mehr ein".

Design ohne Vornamen

Das "The Stue" liegt direkt neben der spanischen Botschaft. Das Land der Paella und des Flamencos verfügt über eine eher überschaubare Mode-Historie, aber Namen wie Paco Rabanne oder Cristóbal Balenciaga kennt man dafür vom KaDeWe bis zum Späti. Wie die meisten international erfolgreichen Megadesigner hat Cristóbal Balenciaga inzwischen seinen Vornamen eingebüßt und firmiert unter Balenciaga.

Dieses First-Name-Schicksal teilt er mit vielen anderen. Chanel, Burberry, Hermès, Prada, Versace oder Dior. Sie alle mussten sich früher oder später auf den Familiennamen beschränken, um am Ende Flagship-Stores an der Avenue Montaigne, der 5th Avenue und der Oxford Street zu haben.

An jenen ersten Adressen des Luxusmodeshoppings gibt es noch keine Kilian Kerner-Stores. Das liegt nicht an Kilian Kerner, sondern an der ungünstigen Namenskonstellation. Kilian Kerner kann seinen Vornamen nicht ablegen, da er sonst mit einem mittelguten TV-Moderator verwechselt würde. Und Kleider, die Johannes Baptist Kerner entworfen hat, möchte wirklich niemand tragen. Nicht mal auf der 5th Avenue - und da ist man Kummer gewohnt. Immerhin steht dort auch der Trump Tower.

Im "The Stue" jedenfalls, dritte Etage, gibt sich Deutschlands Modelelite die Klinke in die Hand. Es werden verschiedene Outfits an verschiedenen Körpern probiert. Was gefällt, wird "gesetzt". So sagt man nicht nur in Baumschulen, sondern auch im Modezirkus. Präsentiert ein Model einen bestimmten Look perfekt, wird er "gesetzt". Er ist dann genau diesem Model final zugeordnet. Die gesamte Atmosphäre wirkt familiär, freundlich, stellenweise sogar lustig.

Who the F**k is Kilian Kerner?

Aber wer ist eigentlich dieser Kilian Kerner? Ist man kein Fashion-Insider, kennt man ihn wahrscheinlich aus "Germany's Next Topmodel". Seit vielen Jahren ist er fester Bestandteil von Heidi Klums Akademie für Model-Novizinnen. Unzählige Kandidatinnen haben auf seinen Shows erstmals Fashion-Week-Luft schnappen dürfen. Wenn man so will, ist er der Runway-Wegbereiter für die Modelkarrieren so mancher Topmodel-Generation.

Sieht man Kilian Kerner zum ersten Mal, denkt man sofort: 20 Jahre Modedesigner? Hat der mit sieben angefangen oder was? Kilian Kerner wirkt jugendlich. Ob das an seinem Faible für Sportswear liegt? Ich habe keine Erinnerung daran, ihn jemals nicht in Jogginghose angetroffen zu haben. Mir gefällt das, aber ich bin natürlich auch nicht Karl Lagerfeld, der eine etwas distanzierte Einstellung zu Jogginghosen gehabt haben soll.

Backstage mit Kilian Kerner

Als ich Kilian Kerner zwei Tage später nur wenige Minuten vor seiner Jubiläumsshow backstage wiedertreffe, ist er ein wenig aufgeregter. Trotzdem beantwortet er mir geduldig meine Fragen. Kilian ist einer der wenigen Menschen mit regelmäßigem Zugang zu GNTM. Daher versuchen Journalisten oftmals, ihn zu einer Art Klum-Insiderquelle zu machen: "Alle Journalisten fragen mich nach Heidi. Ich spreche gerne über GNTM und Heidi, aber ich finde es etwas pietätlos, wenn Journalisten mir Fragen zum Privatleben von Heidi Klum stellen."

In Zeiten von häufigeren Extremwettervorfällen und Klimawandel ist jede Branche zum Umdenken Richtung Nachhaltigkeit angehalten. Vor allem die Fashion-Branche. Auch Kilian sieht sich in der Verantwortung: "Wir werden alle nicht 100 Prozent nachhaltig werden, das ist auch nicht möglich, aber jeder muss für sich den Weg finden, nachhaltiger zu sein. Wir versuchen, mit jeder neuen Kollektion besser zu werden. Natürlich nutzen wir fast keine tierischen Stoffe und kein echtes Leder mehr. Und wir haben die Lieferwege verkürzt."

In den 20 Jahren als Designer hat er einen langen Weg zurückgelegt: "Vor 20 Jahren habe ich damit angefangen, auf T-Shirts und Hosen rumzumalen und Löcher reinzuschneiden. Das funktioniert heute nicht mehr." Heute sind die Kollektionen aufwändiger, die Entwürfe filigraner und facettenreicher.

Dennoch bleibt Kilian seiner Linie treu: "Ich entwerfe nicht für eine bestimmte Person. Muse ist das schlimmste Wort der Welt. Natürlich gibt es Menschen, die mich beeinflusst haben. Das waren als Kind eindeutig Steffi Graf und Nena. Heute sind es Menschen wie der Vater meines Freundes. Das ist einer der tollsten Menschen, die ich kenne. Wenn ich in seinem Alter bin wie er, habe ich alles richtig gemacht. Auf der Arbeitsseite auch Heidi Klum. Man lernt von Heidi sehr viel, wenn man mit ihr arbeitet. Und mein Freund."

Du bist so wunderbar, Berlin ...

In meinem Freundeskreis hat sich über die letzten Monate eine Art Berlinmüdigkeit entwickelt. Freundinnen, die jahrelang von Berlins Kreativität und Impulsivität, Vielfältigkeit und Aura vorgeschwärmt haben, wollen plötzlich nach Bayern aufs Land ziehen. Entschleunigung nennt man das wohl. Wenn ich entschleunigen möchte, gebe ich drei Minuten Vollgas mit meinem (natürlich vollelektronischen) Volvo und lasse mich dann entspannt zum nächsten Latte Macchiato mit Hafermilch ausgondeln.

Ich bin froh, dass Kilian Kerner der Stadt auch noch nicht abgeschworen hat. Im Gegenteil: "Als Mensch und Designer ist Berlin für mich das Wichtigste. Ohne Berlin würden wir beide hier nicht sitzen und über 20 Jahre Kilian Kerner reden. Gerade der Anfang in Berlin. Damals haben wir für ein 200 Quadratmeter Atelier 600 Euro Miete bezahlt. Lala Berlin. Esther Perbandt. Kaviar Gauche. Meike Vollmer mit Macqua Design. Wir haben hier alle zur gleichen Zeit angefangen. Das war eine sehr schöne Zeit. Man war so frei."

Kilian Kerner ist kein Mensch, der in der Vergangenheit lebt. Am Tag seines 20-jährigen Jubiläums erlaubt er mir dennoch, ihn bei einem kritischen und auch ernsten Schulterblick zu begleiten: "Es ist schade, dass es von den Designern nicht mehr alle gibt. Meike Vollmer etwa hat das gleiche Schicksal ereilt, wie auch mich zwischenzeitlich. Das war sehr, sehr schlimm. Da war jemand am Werk, der viele Marken, die sehr gut waren, platt gemacht hat."

Kilian Kerner nennt keinen Namen. Ich nehme an, er spricht von Markus Höfels. Der Geschäftsführer der Icon Group war als Investor bei Berliner Modelabels eingestiegen, um ihnen die finanzielle Freiheit zu ermöglichen, international zu expandieren und endlich vernünftige Umsätze und Gewinne einzufahren. Bei vielen Designern wurden die Versprechen nicht gehalten. Viele kreative Modedesigner sind so ins Straucheln geraten. Einige sind gefallen. Auch Kilian Kerner steckte in diesem Dilemma. Zum Glück ist er wieder auf die Beine gekommen und hat wieder die volle Kontrolle über die Marke "Kilian Kerner". Das haben nicht alle geschafft. Inzwischen tragen internationale Stars Kilian Kerner. Von Rita Ora über Halle Berry bis zu Nelly Furtado. Die drei größten Stars in Kilians Augen, die seine Mode tragen, sind: "Heidi Klum, Jennifer Lopez und Gwen Stefani!"

Wenn Diversität zum Marketinginstrument verkommt

Mode ist heute mehr denn je Werkzeug, um Individualität und Stil zum Ausdruck zu bringen. Gleichzeitig, das merkt man an vermeintlich woken Orten wie Berlin besonders, denken viele Designer und Labels nur noch in Diversity und politischen Statements. Dem neuen Zeitgeist um jeden Preis gerecht werden. Das sieht auch Kilian so: "Ich setze gerne ein Statement - wenn es passiert. Aber nicht, weil es erwartet wird."

Er vertraut mir eine Geschichte an: "Ich war immer sehr divers. Bis auf zwei Ausnahmen, 2009 und 2010, als es mal zwei Shows gab, wo nur blonde Models gelaufen sind, hatten wir immer People of Colour, asiatische Models, Models aus Russland. Für mich fängt Diversität nicht bei Körpergrüße oder Gewicht an. Ich finde es schon fast diskriminierend, wenn man Diversity auf Körpergröße und Gewicht sieht und nicht auf eine Ethnie. Ich liebe People of Colour. Ich finde, das sind so wahnsinnig schöne Menschen. Ich habe immer viele gebucht. Aber dann habe ich mich bei der letzten Show dabei erwischt, wie ich beim Casting saß und dachte: Scheiße, du hast zu wenig People of Colour. Zehn Minuten später habe ich dann gedacht: Nein, wenn ich diese Saison einfach nicht genug finde, die zu meiner Kollektion passen, dann ist das so. Seitdem habe ich mich davon gelöst."

Warum er sich kurzzeitig unter Druck gesetzt fühlte, nicht divers genug gecastet zu haben, erklärt Kilian so: "Ich finde nichts schlimmer, als wenn Diversity nur ein Marketingkonzept ist. Wofür brauchen wir einen Pride Month? Ich bin jeden Tag schwul!" Ein Satz für die Ewigkeit.

Das Curvy-Dilemma

Kompromisslos ehrlich ist Kilian Kerner auch beim Thema Curvy Models: "Ich gebe ehrlich zu, dass ich darauf nie Lust hatte. Aber dann habe ich bei GNTM Dasha getroffen und das hat gefunkt. Seither war Dasha fester Bestandteil dieser Marke. Leider musste ich nach drei, vier Saisons feststellen, dass sich niemand für meine Curvy-Mode interessiert. Die Sachen vergammeln im Showroom. Niemand hat sie ausgeliehen, keiner hat jemals ein Curvy-Teil bestellt. Also musste ich als Unternehmer sagen: Es ist nicht nachhaltig, wenn da jetzt jetzt 25 Looks hängen, die nie jemand anziehen wird, und es ist Geldverschwendung. Das größte, was je bei mir gekauft wurde, war Größe 42. Da habe ich mich gefragt: Wäre damit weiterzumachen jetzt ein Zwang, oder mache ich es gerne? Klar bekommt man dann als Designer die Keule über den Kopf gezogen, dass Curvy nur ein Trend war und jetzt alle wieder aufhören. Ich kenne aber viele weitere Designer, bei denen ist das genauso. Die verkaufen davon auch nichts. Diese Gesellschaft muss mir mal ernsthaft die Frage beantworten: Müssen wir Designer uns jetzt dazu zwingen, das trotzdem weiterzumachen? Für mich habe ich entschieden. Ich habe Dasha angerufen und ihr gesagt: Dasha, ich liebe dich, aber Curvy-Mode macht keinen Sinn."

Kilian plagte wochenlang ein schlechtes Gewissen, aber es war die richtige Entscheidung. Ob er in seiner Karriere immer die richtige Entscheidung getroffen hat, vermag ich nicht zu beurteilen. Wahrscheinlich nicht. Wer hat schon 20 Jahre lang nie falsch gelegen? Sehr viel kann er jedoch nicht falsch gemacht haben, denn trotz viel anfänglichem Gegenwind und sogar Spott, weil er als Quereinsteiger nicht über eine langjährige Ausbildung an renommierten Modeschulen verfügt, sitzt er heute in Berlin und feiert Jubiläum. Wo seine damaligen Hater sind? Keine Ahnung. Auf der Fashion Week Berlin jedenfalls nicht.

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