Sex, Drugs und Rock’n’Roll? Gibt es in der neuen Doku-Reihe "Thank You, Goodnight: The Bon Jovi Story" nur am Rande. Trotzdem ist die Serie auf Disney+ jede Minute wert. Zeigt sie doch einen verletzlichen Jon Bon Jovi, der auf der Suche nach seiner alten Stimme ist.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Felix Reek dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

"Thank You, Goodnight: The Bon Jovi Story" fängt mit dem Mitschnitt eines ganz alten Radio-Interviews an. Da ist eine jugendliche Stimme zu hören, die erklärt, dass sie schon immer Sänger werden wollte. Kurz darauf ist der heutige Jon Bon Jovi zu sehen. Graue Haare, mittlerweile 61 Jahre alt, er geht Archiv-Aufnahmen durch, beginnt zu sprechen. Und das klingt gar nicht mehr so wie damals vor 40 Jahren. Die Stimme ist brüchig, kratzig, es klingt, als falle ihm das Reden schwer. Er schiebt eine Videokassette in den Player eines kleinen Röhrenfernsehers und das Bild beginnt zu flackern. Zurück in die Vergangenheit, zu den Stadien, den bunten Klamotten, den auftoupierten Haaren, dem Spandex, damals in den 1980ern, als Bon Jovi eine der größten Bands der Welt waren.

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Das ist der Spagat, den die vierteilige Doku-Reihe "Thank You, Goodnight: The Bon Jovi Story" wagt, die ab dem 26. April exklusiv auf Disney+ zu sehen ist. Auf der einen Seite der junge Jon Bon Jovi, dem alles leicht fiel. Auf der anderen der Sänger, der um seine Stimme kämpft.

Jon Bon Jovis Stimmprobleme schafften es sogar in seriöse Zeitungen

Die Stimmprobleme von Jon Bon Jovi sorgen schon lange für Spott in den Kommentar-Spalten der YouTube-Videos seiner Band. Der Sänger suchte in ausverkauften Stadien Melodien und fand sie nicht, er versemmelte entscheidende Parts seiner Hits, er vergaß Melodien, die er tausendmal gesungen hat. Das ist gerade für Hardrock-Sänger nicht ungewöhnlich. Der Körper verändert sich, die Stimme lässt im Alter nach, das endlose Touren und der oft nicht gerade gesunde Lebensstil hinterlassen ihre Spuren. Die für dieses Genre typischen extrem hohen Töne sind nicht mehr zu erreichen. Aus der Musiker-Generation von Jon Bon Jovi kann heute kaum noch jemand so singen wie vor 40 Jahren. Sebastian Bach von "Skid Row", Vince Neill von "Mötley Crüe", die alle in kurzen Ausschnitten in "Thank You, Goodnight" vorkommen, klingen live schlimmer. Sie machen trotzdem weiter. Sie waren aber auch nie so bekannt wie Jon Bon Jovi, dessen Stimmprobleme es sogar in seriöse Zeitungen schafften.

Umso genialer ist der PR-Schachzug der Doku "Thank You, Goodnight: The Bon Jovi Story", die nicht nur eine Rückschau auf 40 Jahre Bandgeschichte ist: Statt in die Defensive zu gehen, thematisiert Jon Bon Jovi in ihr das eigene Versagen, zeigt sich verletzlich und verleiht sich so als Künstler mehr Tiefe. Der Cliffhanger der Filmreihe ist: Wird der Sänger je wieder touren können? Es bleibt bei dieser Frage. Eine bessere Werbung für eine Band kann es kaum geben.

Vollgedröhne Musiker spielen in Moskau für Frieden und Abstinenz

Bis es so weit ist, verkürzt "Thank You, Goodnight: The Bon Jovi Story" das Warten. Wir sehen, wie Jon Bon Jovi als Laufbursche eines Studios 1981 den Hit "Runaway" aufnimmt und damit einen Radio-Wettbewerb gewinnt. Wie die Band mit dem dritten Album "Slippery When Wet" Stadien füllt. Wie sie 1989 in die UdSSR fliegen, um in Moskau zu spielen, ein Konzert für Frieden und gegen Drogen. Die Pointe: Ihr Manager Doc McGhee wurde beim Versuch erwischt, mehrere Tonnen Marihuana für das Noriega-Kartell in die USA zu schmuggeln und entging mit diesem Deal einer Haftstrafe. Wie Bon Jovi "eine Million Gesichter rocken" und 300 Shows pro Jahr spielen, bis die seine Band unter der Anstrengung und den Drogen fast auseinanderfällt. All diese wilden Rock’n’Roll-Geschichten, die eben auch den Spaß an diesem Musik-Genre ausmachen.

Konterkariert wird das immer wieder vom grauhaarigen Jon Bon Jovi, wie er vor einem Laptop steht und Stimmübungen macht. Massagen erhält. Zu Atemübungen hechelt. Vitamine nimmt. Um dann doch beim Arzt zu landen, der seine Stimmbänder straffen will, mit dem Risiko, nie wieder singen zu können. Egal, es muss sein, getreu dem uramerikanischen Motto: "Du kannst alles schaffen, wenn du es nur wirklich willst." Legenden werden nicht geboren, sie werden gemacht. In diesem Fall mit einer Filmkamera.

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Richie Sambora gibt den Spielverderber

Denn natürlich ist "Thank You, Goodnight: The Bon Jovi Story" eine sehr subjektive Sichtweise auf die Band. In jeder Sekunde ist klar: Jon Bon Jovi ist der Chef, das ist seine Geschichte und wie er sie erzählen will. Die Exzesse der 1980er-Jahre, mit denen andere Bands ganze Bücher füllten oder die heute für "Metoo"-Skandale sorgen? Sind eine Randnotiz. Drogen? Nahmen nur die anderen Bandmitglieder. Frauen? Jon Bon Jovi ist mit seiner Jugendliebe verheiratet. Er bleibt der ewige Saubermann des Pop-Rocks.

Der amüsante Störfaktor in der vierteiligen Doku ist der ehemalige Gitarrist Richie Sambora. 30 Jahre spielt er mit der Band, er ist Co-Autor der meisten Hits, übernahm viele der hohen Gesangsparts, die Jon Bon Jovi heute nicht mehr schafft. Hochtalentiert, aber immer im Schatten des gut aussehenden Frontmanns. 2013 erschien er nicht zum Start der Tour, Bon Jovi machten am selben Tag mit Miet-Musikern weiter, jahrelang sprachen er und die Band nicht miteinander. Warum der Gitarrist damals zu Hause blieb, ist bis heute unklar. Jon Bon Jovi beharrt im Film und in Interviews darauf, der Gitarrist habe "viele Probleme" gehabt, darunter Drogen - Streit habe es aber nie gegeben. Sambora sagt in der Doku: "Sie wissen genau, warum." Eine Auflösung gibt es nicht.

Aber wieso auch? "Thank You, Goodnight: The Bon Jovi Story" ist ein wilder Trip durch die Zeit vom New Jersey der späten 1970er-Jahre über MTV, den Kalten Krieg, Covid bis in die Gegenwart. Ein großer Spaß, aber eben auch nur das, was die Band von sich preisgeben will. Oder wie es Richie Sambora gleich zu Beginn sagt: "Wie läuft das jetzt hier? Erzählen wir die Wahrheit oder lügen wir?" Die Antwort darauf ist eigentlich egal. Es ist der Mythos, der zählt.

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