Mit Pistolen fuchteln und vorsichtig um Ecken gucken: Ein Verhör gerät zum Geiseldrama in einem Kinderheim, und die Polizei geht fast so dilettantisch ans Werk wie das junge Elternpaar.

Eine Kritik

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Der erste Gedanke: Die Wände der Gefängniszelle sind in einer dieser Farben gestrichen, für die sich Designer Namen wie "Mitternacht am Meer" ausdenken. Der zweite: Offenbar hat sich der Insasse beim Streichen seiner Privatwohnung vom Gefängnis inspirieren lassen.

Der dritte Gedanke: Die Küche dieses Dresdner Kinderheims könnte genauso im Ikea-Katalog abgebildet sein. Inklusive Landbrot auf rustikalem Holzbrett mit Messer.

"Tatort Dresden": Bonnie-und-Clyde gegen den Rest der Welt

Nur dass das Messer in Ikea-Küchen selten so fatale Folgen hat wie in diesem Dresdener "Tatort", in dem alles so schön zusammenpasst, und eben deshalb nicht so richtig passt. Das fängt schon bei den Hauptfiguren an, ein Bonnie-und-Clyde-Pärchen mit dem Namen "Bürger". Herr und Frau Bürger gegen den Rest der Welt? Ist doch klar, dass das nicht funktionieren kann.

Louis (Max Riemelt) und Anna Bürger (Katia Fellin) sind ein junges Paar, das wilde Zeiten hinter sich hat. Louis ist vorbestraft, und der zwölfjährige Sohn Tim (Claude Heinrich) lebt im Kinderheim, seit er zuhause mal an eine Überdosis Ecstasy geraten ist. Jetzt soll alles anders werden.

Anna hat sich an einen langweiligen Job im Supermarkt gewöhnt und bemüht sich um ein geregeltes Leben, in Louis dagegen scheint noch zu viel Energie für das beschauliche Mutter-Vater-Kind-Spiel zu brodeln.

Untersuchungshaft trotz Unschuld?

Als ein Nachbar, ausgerechnet Polizist, tot vor dem Mietshaus liegt, in dem die Bürgers wohnen, hat die Polizei Grund Louis zu verdächtigen. Er gerät in Panik. Aber man beweist seine Unschuld eben nicht mit einem Fluchtversuch über den Balkon, und so kommt er erst einmal in Untersuchungshaft.

Was immer sein erster Gefängnisaufenthalt mit Louis gemacht hat, erfahren wir nie – aber wir sehen, wozu er jetzt führt: Louis überredet Anna, ihn aus der Haft zu befreien, dann wollen sie Tim aus dem Heim holen und nach Kroatien fliehen. "Ans Meer, eine Surfschule eröffnen oder so", lauten Louis ausgereifte Pläne. Natürlich geht alles schief, und aus der Flucht wird ein Geiseldrama.

Da beginnt die eigentliche Geschichte dieses "Tatort" (Drehbuch: Stefanie Weith und Michael Comtesse). Ein heißer Sommertag in Dresden. Eine schöne Villa als Kinderheim. Drinnen: Ein nervenzerrütteter Geiselnehmer, seine nervöse Frau, der verängstigte Sohn, die Heimleiterin und der siebzehnjährige Heimbewohner Nico (Emil Belton).

Draußen: Die Kommissarinnen Karin Gorniak (Karin Hanczewski) und Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) mit Kommissariatsleiter Schnabel (Martin Brambach) und dem Sondereinsatzkommando.

Polizei kommt nicht zu Potte

Louis dreht natürlich völlig durch. Tim quengelt, wie Kinder das in Krimis immer tun müssen, um zu nerven und schlimme Dinge auszulösen. Und dann will der obercoole Nico auch noch Hobbyheld spielen (und Emil Belton spielt das übrigens toll).

Schnabel ist mit der Situation ziemlich überfordert, und seine Kommissarinnen beschäftigen sich derweil damit, alles durchzuspielen, was man in Krimis zu Geiselnahmen so sieht: Besorgt durch Fenster spähen, Kontakt aufnehmen, Vertrauen zu bilden versuchen, entschlossene Entschlüsse fassen, tapfer ins Haus schleichen und vorsichtig um Ecken gucken.

Und das alles schön langsam– wenn Louis und Anna nicht selbst solche Laienentführer wären, hätten sie eigentlich schon das erste Firmenjubiläum mit ihrer Surfschule feiern können, bevor diese Polizei mal zu Potte kommt.

Jeder Schweißtropfen, der irgendwann allen Beteiligten herunter zu rinnen beginnt, verspottet seinen Träger, anstatt wie wohl beabsichtigt die aufgestaute Spannung und drohende Eskalation zu symbolisieren.

Fataler Dilettantismus und fahrige Verzweiflung

Denn dafür, dass so viele Computer aufgebaut und Kameras installiert und coole Ausrüstungen getragen werden, kriegt diese Einsatztruppe erstaunlich wenig mit. Allein in der Zeit, die hier damit verbracht wird, in der alten Villa Türen auf- und abzuschließen, hätte die Heimleiterin locker Pflegeeltern für all ihre Schützlinge finden können.

Stattdessen muss sie nun als Geisel auf dem Küchenboden herumsitzen, eher verwundert als verängstigt. Wir Zuschauer auf unseren Sofas fühlen mit ihr. Wahrscheinlich ist sie von ihren pubertären Hausbewohnern auch Schlimmeres gewohnt als dieses halbstarke Herumgefuchtel mit Pistole.

Aber vielleicht steckt hinter dem Blödsinn ja Methode. Vielleicht soll dies ein "Tatort" sein über die Folgen von fatalem Dilettantismus und fahriger Verzweiflung. Denn wer durchhält und dranbleibt, weil das alles wenigstens schön anzusehen ist (Regie: Stephan Lacant), oder weil man wissen will, ob man mit dem Täter, auf den man schon nach einer halben Stunde getippt hat, richtig liegt, wird mit einem packenden Ende belohnt.

Da ist die Intensität, die die ganze Zeit behauptet wird, endlich zu spüren. Da darf eine Kommissarin endlich glänzen. Und da werden aus Pappfiguren endlich tragische Menschen, denen man ein Leben am Strand von Kroatien von Herzen gönnen würde.

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