Vor 20 Jahren wollte die Regierung ausländische Computerspezialisten nach Deutschland holen. Heute fehlen der Wirtschaft immer noch zahlreiche Fachkräfte, eine echte "Green Card" gibt es nicht. Woran liegt das?
Die Diskussionen waren emotional, fast hysterisch: Am 1. August 2000 trat in Deutschland die "Green-Card-Verordnung" in Kraft. Die damalige rot-grüne Bundesregierung wollte 20.000 ausländische IT-Spezialisten nach Deutschland holen und ihnen eine befristete Arbeitserlaubnis verschaffen.
Mit der eigentlichen Green Card – einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis – hatte das nur entfernt etwas zu tun. Die CDU protestierte trotzdem heftig, gab das Motto "Kinder statt Inder" heraus. Bis zum Auslaufen der Verordnung im Sommer 2003 wurden 14.876 Arbeitserlaubnisse erteilt. Die erhoffte Wirkung blieb also aus.
Und heute? Zahlen der Bertelsmann-Stiftung zufolge kamen 2018 aus dem außereuropäischen Ausland 38.682 Fachkräfte nach Deutschland. Das mag nach viel klingen, doch selbst diese Zahl gilt als zu gering, um den Bedarf der Wirtschaft zu erfüllen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und die Hochschule Coburg errechneten 2019 im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung, dass Deutschland bis zum Jahr 2060 auf die Einwanderung von 114.000 EU-Bürgern sowie 146.000 Menschen aus Nicht-EU-Staaten angewiesen sein könnte. Und zwar jährlich.
CDU hat sich bewegt
"Wir hören von Unternehmen und praktisch allen Wirtschaftsverbänden, dass die Zahl der Fachkräfte noch lange nicht ausreichend ist", sagt
Gülers Partei – die CDU – hat es lange abgelehnt, Deutschland als Einwanderungsland zu bezeichnen. Auch das war ein Grund, warum die Fachkräfte-Zuwanderung lange nicht gesetzlich geregelt wurde. Inzwischen hat sich die Union bewegt. "25 Prozent der Menschen in Deutschland haben eine Migrationsgeschichte", sagt Güler. "Wer trotzdem noch sagt, dass wir kein Einwanderungsland sind, an dem ist die Realität vorbeigegangen."
Neues Gesetz: "Riesenschritt" oder zu umständlich?
Seit dem 1. März 2020 ist nun das Fachkräfte-Einwanderungsgesetz in Kraft – aus Sicht von Güler ein "Riesenschritt und ein Paradigmenwechsel". Nicht-EU-Ausländer sollen dadurch leichter nach Deutschland kommen können, wenn sie bereits einen Arbeitsvertrag haben. Fachkräfte mit einer Berufsausbildung oder einem Hochschulabschluss können unter bestimmten Voraussetzungen auch zur Jobsuche einreisen.
Staatssekretärin Güler betrachtet das Gesetz mit gemischten Gefühlen. Bedarf habe Deutschland nicht nur bei IT-Spezialisten, sondern zum Beispiel auch in der Pflege- und Baubranche. Das Fachkräfte-Einwanderungsgesetz sei allerdings stark vom Ziel geprägt, Sozialmissbrauch zu vermeiden. "Der Gedanke, dass wir auch Zuwanderung von Menschen ohne akademische Ausbildung brauchen, kommt im Gesetz zu wenig durch."
Das Urteil der Opposition fällt noch kritischer aus. In Deutschland gebe es "kein modernes, unbürokratisches und transparentes Einwanderungsgesetz", sagt Filiz Polat, migrationspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion im Gespräch mit unserer Redaktion. "Mit dem Fachkräfte-Einwanderungsgesetz ist die rechtliche Lage eher noch komplizierter geworden. Gerade für kleine und mittlere Unternehmen ist es fast unmöglich, Arbeitskräfte aus dem Ausland zu bekommen, weil sie den bürokratischen Dschungel kaum durchblicken können."
Vorbild Kanada
Die FDP schlägt ein Punktesystem nach dem Vorbild Kanadas vor. Wer Sprachkenntnisse oder eine Ausbildung in einer aktuellen Mangelbranche vorweist, kann dort leichter an eine unbefristete Arbeitserlaubnis kommen. Die Grünen sprechen von einem ähnlichen Modell: der "Talentkarte", mit der sich ebenfalls Punkte sammeln ließen. "Ein solches System wäre flexibel, transparent und es würde sowohl den Interessen des Einwanderungslandes als auch der Einwanderungswilligen entgegenkommen", sagt Filiz Polat.
"Ein Punktesystem bedeutet lange Auswahlprozesse und neue Bürokratie. Es ist das Gegenteil von Vereinfachung", schreibt dagegen das Bundesinnenministerium auf seiner Website. Auch NRW-Staatssekretärin Güler ist skeptisch. Für sie gleichen die Modelle in den USA und Kanada eher einer "Glücksspiellotterie".
Güler: Brauchen zentrale Einwanderungsbehörde
Im Wettbewerb mit diesen klassischen Einwanderungsländern hat Deutschland einen entscheidenden Nachteil: Englisch-Kenntnisse sind auf der Welt viel weiter verbreitet als Deutsch-Kenntnisse. Grünen-Politikerin Polat sieht aber ein weiteres Hindernis für ausländische Fachkräfte: "Viele von ihnen würden nur nach Deutschland kommen, wenn sie ihre Familien mitbringen können. Das muss vereinfacht werden." Ihre Partei setzt zudem auf den "Spurwechsel": Auch Flüchtlinge sollen die Möglichkeit bekommen, dauerhaft in Deutschland zu arbeiten. "Es ergibt keinen Sinn, einen Asylsuchenden, der hier eine Ausbildung gemacht hat und ins Arbeitsleben integriert ist, wieder wegzuschicken, weil sein Asylantrag abgelehnt wurde."
Die CDU dagegen will die Themen Flüchtlinge und Fachkräfte nicht vermischen. Serap Güler räumt ein, dass die emotionale Diskussion über die Flüchtlingsbewegung 2015 es nicht leichter gemacht habe, das Thema voranzutreiben. Sie bleibt aber dabei: Der Wirtschaftsstandort Deutschland müsse die "Werbetrommel rühren".
Zudem fordert Güler eine zentrale Einwanderungsbehörde des Bundes. Es gebe zwar ein Bundesgesetz – doch das werde in den Ländern immer noch auf 16 unterschiedliche Arten ausgelegt. "Dazu kommt, dass die Ausländerbehörden in den Kommunen mal mehr, mal weniger restriktiv vorgehen. Es kann nicht sein, dass Unternehmenserfolg davon abhängig ist, ob die Ausländerbehörde vor Ort mitmacht oder nicht."
Serap Güler ist Staatssekretärin für Integration im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration Nordrhein-Westfalen.
Filiz Polat ist Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen.
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Serap Güler
- Gespräch mit Filiz Polat, Bundestagsabgeordnete Bündnis 90/Die Grünen
- Bertelsmann-Stiftung: "Deutscher Arbeitsmarkt auf außereuropäische Zuwanderung angewiesen"
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