Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Arbeitszeiterfassung soll die Gesundheit überarbeiteter Arbeitnehmer schützen, die häufig unbezahlt Überstunden abreißen. Wie es in der Praxis umgesetzt werden soll, ist völlig offen. Wir geben Antworten.
Dieses Urteil könnte auch in Deutschland die Arbeitswelt umkrempeln: Alle Unternehmen sollen verpflichtet werden, die tägliche Arbeitszeit ihrer Beschäftigten systematisch zu erfassen. So hat es der Europäische Gerichtshof am Dienstag entschieden.
Das bedeutet nicht unbedingt die Stechuhr für alle, denn möglich ist zum Beispiel auch eine flexible Erfassung per App.
Aber das Telefonat mit dem Chef nach Feierabend, die dienstliche Email im Pyjama beim Frühstückskaffee - all das soll künftig als Arbeitszeit abgerechnet werden.
Die deutschen Arbeitgeber sind empört, während die Gewerkschaften jubilieren. Aber was ändert sich nun eigentlich konkret?
Die wichtigsten Antworten:
Was hat der EuGH genau entschieden?
Der Kern des Urteils lautet: Alle EU-Staaten müssen Arbeitgeber verpflichten, ein "objektives, verlässliches und zugängliches System" zur Erfassung der von jedem Arbeitnehmer geleisteten täglichen Arbeitszeit einzurichten.
Anlass war eine Klage in Spanien, doch gilt die Vorgabe auch in Deutschland. Wie die Systeme genau aussehen, können die EU-Staaten entscheiden.
Es gibt also Spielräume bei der Umsetzung und auch die Option auf Ausnahmen für einzelne Tätigkeiten, die sich zum Beispiel nicht genau bemessen lassen.
Was soll das Urteil bringen?
Der EuGH pocht auf EU-Arbeitnehmerrechte zum Schutz der Gesundheit. Jeder Arbeitnehmer habe ein Grundrecht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit sowie auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten.
Nur wenn die gesamte Arbeitszeit systematisch erfasst werde, lasse sich auch Mehrarbeit beziffern. Und nur so könnten Arbeitnehmer ihre Rechte durchsetzen.
Der Gerichtshof verweist auf Informationen der Kläger in Spanien, wonach dort 53,7 Prozent aller geleisteten Überstunden nicht erfasst werden. Für Deutschland gibt die Bundesregierung die Zahl der Überstunden 2017 mit 2,1 Milliarden an, die Hälfte davon unbezahlt - wobei eine exakte Zahl eben auch eine Aufzeichnung voraussetzt.
Was bedeutet das für deutsche Arbeitnehmer?
"Jegliche Arbeitszeit muss jetzt erfasst werden", sagte Annelie Buntenbach, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbunds, der Deutschen Presse-Agentur. "Wir freuen uns sehr."
Aus Sicht der Gewerkschaften spricht das Urteil nicht gegen flexible Arbeitszeiten, auch nicht gegen Arbeit von zu Hause. Mit modernen Instrumenten wie Apps lasse sich die Zeit auch für flexible Arbeitnehmer erfassen.
Aber die gesetzlich gedeckelte tägliche Arbeitszeit und die gesetzlichen Ruhezeiten von mindestens elf Stunden dürften leichter durchzusetzen sein.
"Wenn man abends um neun noch einmal dienstlich telefoniert oder Emails beantwortet, ist das Arbeitszeit und als solche zu dokumentieren", erläuterte Buntenbach. Bei einer Ruhezeit von elf Stunden "darf man nicht vor acht Uhr am nächsten Morgen wieder anfangen".
Wie ist denn die Rechtslage bisher?
"Schon jetzt muss nach dem Gesetz die über die reguläre Arbeitszeit hinausgehende Arbeitszeit, also Überstunden, erfasst werden", erläuterte der Arbeitsmarktforscher Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung in Nürnberg. "Dafür muss die reguläre Arbeitszeit bekannt sein."
Das bedeute, dass Arbeitgeber eigentlich schon jetzt die reguläre Arbeitszeit feststellen müsste und sich in der Praxis kaum etwas ändern dürfte. Nur - darum ging es ja im EuGH-Urteil - wird das offenbar nicht überall erfüllt.
Wie viele Arbeitnehmer sind in Deutschland betroffen?
Nach Gewerkschaftsangaben ist das mindestens jeder fünfte Arbeitnehmer. Während Kräfte mit festen Dienstplänen wie Verkäuferinnen einen guten Überblick über ihre Arbeitszeiten hätten, sei dies bei Mitarbeitern im Außendienst oder bei Heimarbeitsplätzen oft nicht der Fall.
Ein Beispiel sei die Kommunikationsbranche. Aber auch Klinikärzte fühlen sich angesprochen. "Überschreitungen der Höchstarbeitszeitgrenzen sind in deutschen Krankenhäusern an der Tagesordnung", erklärte ihre Gewerkschaft Marburger Bund.
Rollt auf die Unternehmen eine Bürokratiewelle zu?
Davon sind einige Experten überzeugt, etwa die Münchner Arbeitsrechtsexpertin Cornelia Marquardt. Künftig müssten alle Arbeitgeber Zeiterfassungssysteme einrichten.
Auch der Fachanwalt Sören Langner meinte: "Die Erfassung der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit bedeutet für Arbeitgeber ein neues Bürokratiemonster und das vorläufige Ende der Vertrauensarbeitszeit."
So sehen das auch Arbeitgeberverbände. "Nach der Datenschutzgrundverordnung und dem Vorhaben zur Entsenderichtlinie zeigt die EU mit dieser Entscheidung abermals, wie Bürokratie auf- und nicht abgebaut wird und moderne Arbeitsformen und -abläufe erschwert und nicht erleichtert werden", schimpfte Hauptgeschäftsführer Oliver Zander vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall.
Und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände erklärte: "Wir Arbeitgeber sind gegen die generelle Wiedereinführung der Stechuhr im 21. Jahrhundert."
Wer muss das Urteil umsetzen und wann?
Angesprochen sind die Mitgliedsstaaten, also in Deutschland die Bundesregierung. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) legte sich noch nicht fest, ob das Arbeitszeitgesetz geändert werden muss.
Aber er stellte klar: "Die Aufzeichnung von Arbeitszeit ist notwendig, um die Rechte der Beschäftigten zu sichern." Es gehe um Löhne und Arbeitnehmerrechte und eben nicht um überflüssige Bürokratie.
Eine Frist zur Umsetzung des Urteils hat der EuGH nicht vorgegeben. Hält sich Deutschland aber nicht daran, könnte die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten.
Kann der Schuss für Arbeitnehmer nach hinten losgehen?
Unter anderem der Verband Bitkom dringt darauf, bei der Gelegenheit das Arbeitsrecht der modernen Arbeitswelt anzupassen.
Der Verband nennt das Beispiel eines Vaters, der nachmittags seine Kinder aus der Kita abholt, um am späten Abend noch einmal Emails zu beantworten und am nächsten Morgen wieder pünktlich im Büro zu sein.
Wer so arbeite, verstoße gegen die Vorgabe einer Ruhezeit von elf Stunden. Werde die Arbeitszeit systematisch erfasst, werde dies viele Arbeitnehmer und Arbeitgeber "ins Unrecht setzen".
Deshalb solle die tägliche Arbeitszeit auf eine wöchentliche Höchstarbeitszeit umgestellt und die elfstündige Mindestruhezeit überprüft werden, meint Bitkom.
Auch Gesamtmetall appelliert: "Jetzt ist die Bundesregierung gefordert, auf nationaler Ebene klarstellend und korrigierend einzugreifen." Es müsse dabei bleiben, dass Beschäftigte ihre Arbeitszeiten selbst aufschreiben. "Wenn sich der Arbeitnehmer jedoch nicht daran hält, dann darf der Arbeitgeber auch nicht dafür haften." (dpa/hau)
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