Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine belastet nicht nur die politischen, sondern auch wirtschaftlichen Beziehungen zu Europa - besonders im Bereich Energiepolitik. Doch der Westen muss nicht fürchten, dass ihm der Gashahn zugedreht wird.

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Im vergangenen Jahr stellte die Bundesanstalt für Rohstoffe in ihrem Situationsbericht fest, dass die Importabhängigkeit Deutschlands vom Rohstofflieferanten Russland weiter gestiegen ist. Demnach decken russisches Erdöl und Erdgas hierzulande ein Drittel des Bedarfs. Öl und Gas aus heimischen Quellen betragen nur zwei beziehungsweise zwölf Prozent. Beide Rohstoffe bedienen jedoch mehr als die Hälfte des Energiebedarfs, während Braunkohle, Atomenergie und erneuerbare Energien zusammen nur auf ein Drittel kommen.

Trotzdem sieht Gustav Gressel, Sicherheitsexperte am European Council on Foreign Relations, einer sogenannten Denkfabrik mit Sitz in verschiedenen europäischen Städten, keinen Grund zur Sorge. Weder für Deutschland noch für die EU. "Wenn Russland sich entscheidet, kein Gas und Öl mehr an Europa zu liefern", sagt Gressel, "wäre Russland pleite." Tatsächlich ist der russische Staatskonzern Gazprom hoch verschuldet und kann schwerlich auf Einnahmen verzichten. Dass Präsident Wladimir Putin Russlands Position als Rohstofflieferant für explizite Drohgebärden nutzt, ist seiner Meinung nach unwahrscheinlich. Zumindest gegenüber Westeuropa.

Schwieriger haben es einzelne Drittländer im engeren russischen Einflussgebiet. "Russland setzt momentan Energieversorger wie Ungarn massiv unter Druck, die Ukraine nicht zu beliefern", sagt Gressel und warnt, durch den Konflikt in der Ukraine nähmen Erpressungsversuche seitens Russland zu. In Deutschland, einem großen Abnehmer von russischen Energieträgern, würden Engpässe höchstens zu einem Preisanstieg führen. Der Gashahn wäre noch längst nicht zugedreht.

Größere Verwundbarkeit im Osten

Dass vor allem Westeuropa nichts zu befürchten hat, liegt an verschiedenen Möglichkeiten, sich selbst zu versorgen. In spanischen und französischen Häfen gibt es genug Terminals, um etwa verflüssigtes Erdgas aus Algerien zu regasifizieren und in vorhandene Gasleitungen einzuspeisen. "Würde man diese Terminals voll auslasten", bilanziert Gressel, "würde die Menge des dort angelieferten Flüssigerdgases die russische Liefermenge übersteigen".

Doch es gibt mehrere Haken: Selbst wenn die theoretisch verfügbare Menge gegeben wäre, blieben viele osteuropäische Staaten unterversorgt. Der Grund ist eine schlecht ausgebaute Infrastruktur. Es fehlt an Leitungen, die in beide Richtungen Gas oder Öl pumpen können. Häufig weil die Pumpstationen noch im Bau sind.

Zu dem unzureichenden Leitungssystem, das Ost und West verbinden soll, kommt eine uneinheitliche Marktsituation. Während der Energiemarkt in Westeuropa, insbesondere innerhalb der EU, weitestgehend abgestimmt ist, geht die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im und mit dem Osten sowohl auf politischer als auch wirtschaftlicher Ebene eher schleppend voran. Infolgedessen ist die Abhängigkeit von russischer Energie in Staaten wie Finnland, Bulgarien aber auch Polen ungleich größer.

Laut Sicherheitsexperte Gressel kann Putin dort seine Monopolposition unbedenklicher ausspielen "und etwa von Bulgarien einen viel höheren Preis verlangen als von Deutschland, das an den französischen Markt angebunden ist und über Gaslieferungen aus der Nordsee abgesichert ist."

Energiekonzerne in die Pflicht nehmen

Die EU hat inzwischen gehandelt und die Schaffung einer "Europäischen Energiunion" beschlossen. So soll eine Vereinheitlichung des Energiemarktes durch ein besseres Fördersystem, aber auch mithilfe der Bündelung von Forschungs- und Technologiekapazitäten erreicht werden, heißt es.

Damit das Vorhaben gelingt, müssen allerdings auch unterschiedliche Rahmenbedingungen koordiniert werden.

Noch herrscht bei der Energieversorgung ein unübersichtliches Nebeneinander von internationalen Großkonzernen wie Shell und BP im Westen und kapitalschwachen staatlichen Gesellschaften an der östlichen Grenze der EU. Eine internationale Zusammenarbeit zur Stärkung des Binnenmarktes hängt also nicht zuletzt von konkurrierenden Unternehmen ab.

Wie schnell der Ausbau der technischen Infrastruktur einerseits und die politischen Verhandlungen andererseits voran gehen können, lässt sich momentan schwer abschätzen. So lehnt etwa die Bundesregierung laut "Spiegel Online" gemeinsame Gaseinkäufe der EU zwar ab. Gressel zufolge befürwortet sie jedoch, dass die Konzerne zur Finanzierung der umfangreicheren Leitungsnetzes in die Pflicht genommen werden.

Fraglich bleibt, inwieweit Putin einer solchen energiepolitischen Neuausrichtung der europäischen Selbstversorgung tatenlos zusehen wird.

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