• Am weltweit größten Container-Hafen in Shanghai stauen sich tausende Schiffe.
  • Denn die Metropole befindet sich seit Wochen im Mega-Lockdown, die Produktion liegt teilweise lahm und internationale Lieferketten werden unterbrochen oder erheblich verzögert.
  • Steckt Taktik dahinter? Experten haben eine klare Antwort.

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Ist die Corona-Blockade in China Teil des globalen Krieges der Lieferketten? Genährt wird diese Behauptung derzeit zumindest auf Twitter. "Schiffe warten, um anzulegen wegen Chinas wahnsinniger COVID-Strategie. Das ist Absicht", schreibt etwa der amerikanische Unternehmer Aaron Ginn und postet dazu eine Karte, die den Stau tausender Schiffe vor der Küste des Landes zeigt.

Tatsächlich hatte Chinas Präsident Xi Jinping im Januar 2021 erklärt: "Wir sollten die Abhängigkeit internationaler Lieferketten von China erhöhen und mächtige Vergeltungs- und Bedrohungskapazitäten gegen ausländische Mächte aufbauen, die versuchen, Lieferungen zu kürzen."

Mega-Lockdown in Shanghai

In Deutschland lässt das aufhorchen, denn China ist Deutschlands Zulieferer Nummer eins und einer der stärksten Handelspartner noch dazu. Mehr als die Hälfte aller EU-Exporte nach China kamen 2019 aus der Bundesrepublik.

Wegen des Lockdowns in Shanghai befürchtet auch die deutsche Wirtschaft Lieferengpässe. 70 Prozent der in China tätigen deutschen Unternehmen sind in Shanghai und Umgebung ansässig. Eigentlich hatte man einen Lockdown in der Hafenmetropole vermeiden wollen. Doch nun sah die Führung keine andere Möglichkeit mehr, den landesweiten Hotspot einzudämmen, als mit drakonischen Maßnahmen: stillstehende Produktion, eingeschränkte Logistik.

Schaden für Chinas Wirtschaft

Dass eine wirtschaftliche Taktik dahinterstecken soll, kann sich Ökonom Bastian Dürr allerdings nicht vorstellen. "Der Shanghai-Lockdown schädigt Chinas Wirtschaft erheblich, da ausländische Fachkräfte abwandern und Investitionen auf Eis gesetzt oder abgezogen werden", erinnert er.

Chinas Wachstum und technologischer Fortschritt sei in vielen Bereichen immer noch vom Austausch mit dem Westen abhängig. "Ich kann mir also nur schwer vorstellen, wie ein Lockdown Shanghais für die Kommunistische Partei Chinas (KPC) von strategischem oder geopolitischem Nutzen sein könnte", sagt der Experte.

Experte: China würde sich "ins eigene Fleisch schneiden"

Auch der Ökonom Vincent Stamer ist skeptisch. "Das größte Ziel Pekings war immer, Wirtschaftswachstum zu fördern, ein Ziel von sieben Prozent wurde dafür ausgegeben. Um das zu erreichen, ist China auf den Export angewiesen", ist sich Stamer sicher.

Wenn China sich jetzt als unverlässlicher Partner herausstelle, würden westliche Unternehmen das Risiko, in China produzieren zu lassen, neu bewerten. "China würde sich also ins eigene Fleisch schneiden", sagt er.

Rückverlagerung der Produktion?

So sieht es auch Experte Dürr: "Die wahrscheinlichen Auswirkungen des Shanghai-Lockdowns gehen gegen das Ziel von Xi Jinping", betont er. Der Fall Shanghai verstärke voraussichtlich einen Trend zum sogenannten reshoring, nearshoring oder friendshoring.

Dabei werden Produktionsstätten ins eigene Land, in Nachbarländer oder in befreundete Länder zurückverlegt. "In diesem Fall würde China also an Bedeutung in internationalen Lieferketten verlieren und somit zukünftig weniger Hebel haben, um politischen Druck auszuüben", analysiert Dürr.

Kehrtwende kaum möglich

Gleichzeitig sei es ein Fehlschluss, jeden Import aus China als Abhängigkeit zu deuten, warnt Stamer. Ohnehin glaubt er nicht, dass China beide seiner Ziele erreichen kann: "China will sich unabhängiger machen, seinen eigenen Binnenmarkt stärken und gleichzeitig den Westen abhängiger von sich selbst machen. Beides zur selben Zeit geht aber nicht", meint Stamer.

Statt ökonomischer Beweggründe sehen die Experten politische Motive hinter dem harten Lockdown. "Die KPC und Xi Jinping persönlich haben die propagierte Überlegenheit des chinesichen Systems an die 2020 zunächst effektive Null-COVID, neuerdings 'dynamic zero covid' Strategie genannt, geknüpft", sagt Dürr.

Angst vor überlastetem Gesundheitssektor

Ein Abweichen von dieser Strategie käme einem Eingestehen gleich, dass diese Strategie beziehungsweise das autoritäre chinesische System zumindest im Bereich der Pandemiebekämpfung doch nicht überlegen sei. "Shanghai hat also wenig Spielraum, um von der allgemeinen Marschrichtung aus Peking abzuweichen", sagt er.

Aufgrund der niedrigen Impfquote und vulnerablen Bevölkerungsgruppen gebe es in China ernste Bedenken, dass ein unkontrollierter Corona-Ausbruch zu einer Überlastung des Gesundheitssystems führen könnte. "Peking tut sich schwer, eine Kehrtwende zu vollziehen, weil es zuvor immer seine Überlegenheit betont hat", sagt auch Ökonom Max Zenglein.

Abhängigkeit reduzieren

Die Debatte über die Abhängigkeit in den weltweiten Lieferketten hält er für geboten. "Corona hat vor Augen geführt, wie risikoanfällig die Lieferketten weltweit sind", sagt er. Trotzdem werde man sich nicht von China verabschieden.

"Das ist kein Schwarz-Weiß-Bild, aber man muss diversifizieren und sich breiter aufstellen", sagt er. Es sei ein langer Prozess. "Corona und die damit verbundene Debatte sind allerdings nur ein Nebenschauplatz, die eigentliche Musik spielt in den geopolitischen Rivalitäten", mahnt Zenglein.

Über die Experten:
Bastian Dürr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für "Regierungslehre: Politik und Wirtschaft Chinas" der Universität Trier. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Chinapolitik der Europäischen Union mit Fokus auf wirtschaftliche Verflechtungen, Chinesische und Europäische Außenwirtschaftspolitik im Vergleich sowie die Neue Seidenstraße in Mittel- und Westeuropa.
Vincent Stamer ist Handelspolitik-Experte am Institut für Weltwirtschaft in Kiel (ifw). Er studierte Wirtschaft an der Brown University in den USA sowie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Max Zenglein ist Chefökonom am Mercator Institute for China Studies (MERCIS). Seine Forschungsschwerpunkte sind Chinas makroökonomische Wirtschaftsentwicklung, Handelsbeziehungen und Industriepolitik. Er befasst sich zudem mit dem chinesischen Wirtschaftssystem sowie der wirtschaftlichen Lage in Hongkong, Macao und Taiwan.

Verwendete Quellen:

  • Twitter-Profil von Aaron Ginn
  • Nikkei Asia: "Chinese Communist Party to mark 100th anniversary in isolation"
  • Konrad Adenauer Stiftung: Europe's China Chimera
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