Durch die Corona-Einschränkungen verbringen Paare mehr Zeit zusammen. Das kann zu Spannungen und Streit führen – oder zu einer tieferen Bindung. Beschert uns diese zwangsläufige Zweisamkeit gar einen Babyboom in neun Monaten? Wir haben mit einer Psychologin und einem Gynäkologen über die Spekulationen zu steigenden Geburtenzahlen gesprochen.

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Koller oder Kinder: Über diese zwei möglichen Folgen der Corona-bedingten Isolation wird derzeit spekuliert. Um sich und andere vor einer Ansteckung mit SARS-CoV-2 zu schützen, sollen Menschen ihre Kontakte reduzieren, weitestgehend zu Hause bleiben und oft auch von dort arbeiten.

Die Zweisamkeit als einzige Option stellt Paare auf eine Probe. Manche werden sich in der Krise entzweien, andere werden daraus gestärkt hervorgehen – möglicherweise sogar mit Nachwuchs, sagt Heike Melzer. Laut der Münchner Paar- und Sexualtherapeutin könnte Deutschland in neun Monaten mehr Geburten verzeichnen. Gynäkologe Christian Albring hingegen bezweifelt das. Eine Studie aus Italien stützt seine Vermutung.

Konzentration auf die Partnerschaft kann zu mehr Geburten führen

Für einen Anstieg der Geburtenzahlen spricht, dass Paare sich durch die Isolation auf die Partnerschaft fokussieren können. Frisch Verliebte haben eventuell mehr Sex und wer schon länger zusammen ist, besinnt sich womöglich auf gemeinsame Ziele, sagt Melzer. "In der Quarantäne kommt man dazu, sich grundlegende Fragen zu stellen: ‘Wo stehen wir aktuell? Wo wollen wir hin? Was ist wichtig?‘" Diese Konzentration auf die Beziehung und den weiteren gemeinsamen Weg könnte durchaus zu mehr Babys Ende dieses oder Anfang nächsten Jahres führen. Bis es so weit ist, dauert es zwar noch. Einen Namen hat das Netz für die während der Quarantäne gezeugten Kinder aber schon gefunden: Coronials.

Paradoxerweise können steigende Geburtenzahlen aber auch in Unsicherheit und Angst begründet sein, sagt Melzer. "Wenn auf der einen Seite Menschen sterben, kann etwas Hoffnungsfrohes – das Entstehen eines neuen Lebens – ein attraktives Kontrastprogramm sein." Mit einem Kind können Paare etwas erschaffen, das sie weiterbringt und stärker macht. Mit einem Kind setzen sie Optimismus in die Welt.

Anhaltender Stress vermindert die Lust

Auf der anderen Seite ist das Leben mit der Pandemie für manche Menschen sehr belastend, sagt Heike Melzer. Sie sorgen sich um ihre körperliche und geistige Gesundheit, das Wohlbefinden ihrer Familie, die wirtschaftliche Zukunft. Auf sexueller Ebene kann das verschiedene Auswirkungen haben: Manche haben deshalb erst recht Sex oder sogar öfter. Die Intimität wirkt für sie wie ein Programm zum Stressabbau, sagt Melzer.

Wenn sie Paare berät – momentan suchen übrigens nicht mehr als sonst üblich ihren Rat –, erfährt sie aber auch von gegenteiligen Bedürfnissen. Andere Menschen, gerade Frauen, brauchen eine entspannte Umgebung, um sexuell aktiv zu werden. Sie haben während der Quarantäne möglicherweise weniger oder gar keinen Sex und warten mit dem Kinderkriegen, sagt Melzer. Denn anhaltende Existenzsorgen können andere Interessen in den Hintergrund treten lassen.

"Stress ist ein ‘Lustkiller‘", sagt Christian Albring, Präsident des Berufsverbandes der Frauenärzte und niedergelassener Frauenarzt in Hannover. Und auch das ständige Zusammensein kann zu nachlassender Libido führen.

"Aktuelle Studien zum Sexualverhalten bei länger anhaltenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens sind nicht bekannt", sagt Albring. Er glaubt zwar, dass Paare in den Wochen der Ausgangbeschränkungen tendenziell mehr Sex hatten. Ob daraus auch Nachwuchs entstehe, hänge jedoch von der Verhütung ab. Schließlich sind Sex und Schwangerschaft nicht zwingend gekoppelt. "Und zuverlässige Verhütungsmittel waren und sind jederzeit, auch während der Lockdown-Phase, verfügbar", sagt er.

Experten: Coronakrise könnte Impfbereitschaft fördern

Die Corona-Pandemie zeigt, was passiert, wenn wir Viren schutzlos ausgeliefert sind. Bei Protest-Demos gehen derzeit dennoch auch Impfgegner auf die Straße. Generell dürfte die Impfbereitschaft im Zuge der Krise aber zunehmen, vermuten Experten.

Zahlen sprechen dagegen: Italienische Forscher zweifeln an Corona-Babyboom

Ob Deutschland einen Babyboom in neun Monaten erwartet oder nicht: Für beides gibt es Gründe. Solange empirische Daten fehlen, kann über die Coronials allerdings nur spekuliert werden.

Aus Italien gibt es bereits Zahlen – und die sprechen eher gegen einen Babyboom. Dort hatte die Regierung am 9. März die nationale Quarantäne verhängt. Um herauszufinden, welchen Einfluss der Corona-Lockdown auf die Familienplanung der Italiener hat, haben die Forscherin Elisabetta Micelli und ihr Team von der Universität Florenz drei Wochen nach Beginn der Quarantäne eine Online-Umfrage durchgeführt. Die Resultate wurden im Journal of Psychosomatic Obstetrics and Gynecology veröffentlicht, einer Fachzeitschrift mit Beiträgen aus den Bereichen Geburtshilfe, Gynäkologie und Psychosomatik.

Pandemie lässt Interesse an der Familiengründung schwinden

Die Teilnehmer der Umfrage: 944 Frauen und 538 Männer im Alter von 18 bis 46 Jahren, die seit mindestens einem Jahr in heterosexuellen Beziehungen lebten. Das Ergebnis: 81,9 Prozent der 1482 Befragten wollten während der Quarantäne kein Kind zeugen. Die Auswirkungen der Pandemie zeigen sich auch in diesen Zahlen: Während 268 Befragte vor der Pandemie eine Familie gründen wollten, haben mehr als ein Drittel davon (100 Befragte) den Plan im Laufe des Lockdowns verworfen.

Zur Frage, wie repräsentativ die Umfrage ist, schreiben die Forscher: Fast zwei Drittel der Teilnehmer hatten einen höheren Bildungsgrad (63,8 Prozent). Zudem waren 65,6 Prozent älter als 30 Jahre – das spiegelt den Experten zufolge die Altersschicht wider, in der italienische Frauen und Männer am häufigsten Eltern werden. Ursächlich für ihr Zögern in Sachen Familienplanung sind vor allem zwei Gründe: 58 Prozent der Teilnehmer machen sich aufgrund von COVID-19 Sorgen um die wirtschaftliche Zukunft und genauso viele fürchten gesundheitliche Gefahren während der Schwangerschaft.

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Schwangere haben mehr Angst vor einer Ansteckung als nicht-schwangere, gleichaltrige Frauen

Frauenarzt Christian Albring kennt die Sorgen werdender Mütter derzeit. Weil sie meistens jünger und gesünder sind, gehören sie aber tendenziell nicht zur Risikogruppe, sagt er. "Sie erkranken nicht häufiger und schwerer als nicht-schwangere, gleich alte Frauen." Trotzdem rät er zur Vorsicht, denn in Einzelfällen kann die Erkrankung COVID-19 bei Schwangeren einen schweren Verlauf nehmen, bis hin zu einer Lungenentzündung. Das wiederum kann Einfluss auf die Geburt haben.

"Schwangere haben in Zeiten von Corona mehr Angst vor Ansteckung als andere gleichaltrige Frauen und davor, was die Infektion für ihr Ungeborenes bedeuten könnte", sagt Albring. Neben der Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregeln können auch aufklärende Gespräche mit dem Frauenarzt helfen. Entweder bei einem Routine-Vorsorgetermin oder bei Bedarf.

Der Mythos der Münsterländer Stromausfall-Kinder

Wenn in Deutschland vom Babyboom gesprochen wird, ist meist das Jahr 1964 gemeint. Damals, in einer von Optimismus und wirtschaftlicher Stärke geprägten Zeit, erreichte die Zahl der lebend geborenen Kinder mit 1,36 Millionen ihren Höchststand. Einen erneuten, wenn auch deutlich niedrigeren Anstieg gab es 1990 mit 906.000 Neugeborenen. Das hängt auch mit der höheren Anzahl potentieller Eltern zusammen: Die Babyboomer waren 1990 26 Jahre alt. Danach folgte ein Rückgang. 2011 wurde mit nur 663.000 Neugeborenen die niedrigste Geburtenzahl seit 1946 verzeichnet. Seitdem geht die Kurve wieder nach oben – 2018: rund 787.500 Babys – und das ohne größere Ausreißer.

Zwar ranken sich zahlreiche Mythen um außergewöhnliche Ereignisse und die Kinder, die aufgrund dessen gezeugt werden. Ein Zusammenhang lässt sich allerdings selten nachweisen, schreibt Hans Wilhelm Michelmann in seinem Aufsatz "Wunder, Mythen und Märchen in der Reproduktionsmedizin". Als Beispiel nennt Michelmann, der als Professor für Gynäkologie und Geburtshilfe an der Universitätsklinik Göttingen arbeitet, einen Stromausfall in New York am 9. November 1965. Neun Monate später berichtete die "New York Times" von außergewöhnlich vielen Entbindungen – eine Falschmeldung, die wissenschaftlich nicht belegt werden konnte. Ein ähnliches Beispiel aus Deutschland ist der Stromausfall im Münsterland Ende 2005. Zeitungen berichteten im Sommer 2006 von einem Babyboom, jedoch stimmte auch das nicht.

Die italienische Forscherin Elisabetta Micelli und ihre Kollegen sind in ihrem Bericht übrigens vorsichtig, was Prognosen angeht. Sie berichten lediglich von einem Einfluss der Coronavirus-Pandemie auf den Wunsch nach Familiengründung. Unklar sei, so die Experten, ob sich ihre Ergebnisse decken mit erkennbar höheren Geburtenzahlen in naher Zukunft.

Über die Experten: Dr. med. Heike Melzer ist Paar- und Sexualtherapeutin. Die Fachärztin und ehemalige Managerin einer großen amerikanischen Unternehmensberatung hat eine eigene Praxis in München.
Dr. med. Christian Albring ist Präsident des Berufsverbandes der Frauenärzte. Seit 1987 ist er niedergelassener Frauenarzt in Hannover.

Verwendete Quellen:

  • Bundeszentrale für politische Bildung: Deutsche Verhältnisse. Eine Sozialkunde.
  • Micelli, Elisabetta et al.: Desire for parenthood at the time of COVID-19 pandemic: an insight into the Italian situation. In: Journal of Psychosomatic Obstetrics and Gynecology.
  • Michelmann, Hans Wilhelm: Wunder, Mythen und Märchen in der Reproduktionsmedizin. In: Journal für Reproduktionsmedizin und Endokrinologie.
  • Statista: Geburtenzahl in Deutschland bis 2018.
  • Statistisches Bundesamt: Bevölkerung und Demografie. Auszug aus dem Datenreport 2018.
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