Beim Thema Sterbehilfe herrscht in Deutschland weiter Rechtsunsicherheit. Nach zwei gescheiterten Gesetzesentwürfen im Juli kommt nun wieder etwas Bewegung in die Debatte um einen würdigen Tod. Was an der derzeitigen Situation gefährlich ist, erklärt ein Palliativmediziner.

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Für Winfried Hardinghaus ist es eine gute Nachricht gewesen: Eine fraktionsübergreifende Abgeordnetengruppe im Bundestag erklärte vor wenigen Tagen, man habe das Thema Sterbehilfe wieder aufgenommen.

Hardinghaus war enttäuscht, als im Juli keiner von zwei Gesetzesentwürfen eine Mehrheit fand. "Das bedeutete, dass wir nun erst einmal weiter in großer Rechtsunsicherheit bleiben - betroffene Patienten und Ärzte", erklärt der Palliativmediziner und Vorsitzende des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbands (DHPV), der auch viele Gespräche mit Politikern geführt hatte.

Prof. Dr. Hardinghaus berät in der Sterbehilfediskussion auch Politiker. © DHPV

Dabei geht es um eine existenzielle Frage, die alle - am Ende des eigenen Lebens oder als Angehörige - betreffen kann. Einen selbstbestimmten Tod gönne er jedem, betont Hardinghaus im Gespräch mit unserer Redaktion: "Das ist immer eine individuelle Entscheidung, und dafür würde ich niemanden persönlich verurteilen. Doch sehe ich angesichts fehlender Regeln vor allem eine große gesellschaftliche Gefahr: dass der Suizid in Deutschland zu etwas Normalem wird. Und das darf keinesfalls geschehen."

Doch von vorne: Worum geht es eigentlich? Im Fokus steht eine bestimmte Form der Sterbehilfe, der assistierte Suizid (oder auch: Beihilfe zur Selbsttötung).

Sterbehilfe in Deutschland: Was erlaubt ist und was nicht

  • Assistierter Suizid/Beihilfe zur Selbsttötung ist erlaubt: Eine Person beschafft einer schwerkranken oder sterbewilligen Person ein tödliches Mittel, das der Patient selbst einnimmt. Das ist der entscheidende Punkt: Die "Tatherrschaft" liegt beim Betroffenen selbst. Da Suizid nicht strafbar ist, ist auch die Beihilfe nicht strafbar.
  • Aktive Sterbehilfe ist strafbar: Jemand führt gezielt den Tod einer anderen Person herbei, etwa indem er ein tödlich wirksames Medikament verabreicht. Unterschied zur indirekten Sterbehilfe: Der Tod ist nicht nur in Kauf genommen, sondern beabsichtigt.
  • Passive Sterbehilfe ist erlaubt: Eine schmerzlindernde Behandlung und Grundpflege des Patienten bleibt, aber es wird auf lebensverlängernde Maßnahmen verzichtet (wenn dies dem Wunsch des Patienten entspricht, der im Zweifel ermittelt werden muss. Hier hilft eine Patientenverfügung).
  • "Indirekte Sterbehilfe" – ebenfalls erlaubt: Die Schmerzen des Patienten werden so behandelt, dass ein früherer Tod als Folge der lindernden Medikation nicht angestrebt, aber in Kauf genommen wird. Man spricht hier auch von Sterbebegleitung.

Assistierter Suizid seit 2020 erlaubt – gesetzliche Regelungen lassen auf sich warten

Wer auch immer Beihilfe zum Suizid leistet, ob Ärzte oder Sterbehilfeorganisationen, hat das Problem, sich in einer Zone ohne konkrete gesetzliche Regelungen zu bewegen. Es sei äußerst schwierig, einen Arzt zu finden, der Mittel zur Selbsttötung verschreibt, argumentieren etwa zwei schwerkranke Kläger, die vor Gericht zogen. Seit Donnerstag (26. Oktober) wird ihr Fall nun vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig verhandelt: Es geht um den Zugang zu einer tödlichen Dosis Betäubungsmittel für Sterbewillige, was nicht zuletzt die Deutsche Stiftung Patientenschutz strikt ablehnt.

Um die aktuell ungeregelte Situation zu verstehen, ist ein Blick auf die Chronologie hilfreich: 2015 hatte der Bundestag die "geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung" gesetzlich verboten. Damit machte sich strafbar, "wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt".

Das Gesetz zielte auf Vereine ab, die kommerziell Sterbehilfe betrieben. Tatsächlich aber konnte "geschäftsmäßiges Handeln" nach geltendem Recht auch ohne Gewinnstreben vorliegen, was eine Grauzone für Mediziner bedeutete. Angehörige etwa waren von der Strafandrohung ausgenommen – ebenso wie dem Suizidwilligen "nahestehende" Personen, wenn sie nicht wiederholt so handelten. Mehrere schwerkranke Menschen, Sterbehilfevereine und einzelne Ärzte legten Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz ein.

2020 kippte das Bundesverfassungsgericht (BVG) in Karlsruhe das Verbot dann mit einer historischen Entscheidung. Die Richter argumentierten, das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließe das Recht ein, sich selbst das Leben zu nehmen - und dabei eben auch die Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen.

Der Ärztetag strich 2021 den Satz "Der Arzt darf keine Hilfe zur Selbsttötung leisten" aus der Berufsordnung. Allerdings betonte gleichzeitig der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt: Die Ärzteschaft sei nicht bereit, Suizidbeihilfe zu einer normalen ärztlichen Dienstleistung zu machen.

Palliativmediziner Hardinghaus: "Wir müssen Menschen mit Suizidwunsch Alternativen zeigen"

Das Urteil des BVG hatte zugleich auch eine Tür für organisierte Angebote geöffnet. Allein 2021 halfen in Deutschland tätige Sterbehilfe-Organisationen bei fast 350 Suiziden, informierte die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) Anfang 2022.

Die Chance, solche Angebote zu regulieren und Ärzten Rechtssicherheit zu geben, nutzte der Bundestag im Juli nicht. Obwohl die Karlsruher Richter das bei ihrem Urteil 2020 ausdrücklich empfohlen hatten: ein Schutzkonzept, um Missbrauch zu vermeiden und Freiwilligkeit sicherzustellen.

Zwei Entwürfe für neues Sterbehilfe-Gesetz scheiterten im Bundestag

  • Striktere Regelung: Die Gruppe um Lars Castellucci (SPD), Ansgar Heveling (CDU) und Kirsten Kappert-Gonther (Grüne) wollte, dass die "geschäftsmäßige" Form der Beihilfe zur Selbsttötung erneut strafbar ist. Ausnahmen sollte es unter bestimmten Voraussetzungen geben: Der Betroffene muss sich in vorgeschriebenen Zeitfenstern und wiederholt einer psychiatrischen oder psychotherapeutischen Begutachtung unterziehen. (Stimmen im Bundestag: 304 Ja, 363 Nein)
  • Generelle Straffreiheit: Die Gruppe um Katrin Helling-Plahr (FDP) und Renate Künast (Grüne) wollte die Hilfe bei der Selbsttötung grundsätzlich aus dem Strafrecht herausnehmen und als Bedingung auf Beratung und Fristen (frühestens drei, spätestens zwölf Wochen) setzen zwischen der Beratung und der Verschreibung des Medikaments. Die Beihilfe sollte nicht für Menschen unter 18 möglich sein. (Stimmen: 287 Ja, 375 Nein)

Der Palliativmediziner Hardinghaus konnte zumindest beiden Vorschlägen etwas abgewinnen: "Ein Gesetz wäre besser gewesen als gar keines. Egal wie, es muss immer die Möglichkeit geben, jemandem mit Suizidwunsch Alternativen anzubieten, ihn etwa zu der sehr guten Palliativ- und Hospizversorgung zu beraten."

Selbstbestimmter Tod: Psychischen und sozialen Druck auf Patienten verhindern

Ein Schutzkonzept sei aber noch aus einem anderen Grund notwendig. Laien haben bei dem schwierigen Thema oft vornehmlich Patienten vor Augen, die körperlich unheilbar krank und sich ohnehin in ihrer letzten Lebensphase befinden. "Viele Suizidwillige aber sind depressiv", erinnert Hardinghaus und betont: "Etwa 90 Prozent von ihnen könnte nach Schätzungen geholfen werden."

Ohne Regelungen, Kontrollinstanzen, festgeschriebene Wartefristen, ohne Begrenzung der Gewinnmöglichkeiten - dass also mit Suizidbeihilfe Geschäfte gemacht werden - sieht Hardinghaus die Gefahr, dass der Suizid zu einer normalen Form des Ablebens wird: "Denken Sie nur an den zunehmenden Pflegenotstand. Es kann zu Druck auf Patienten führen - von außen durch Angehörige etwa, aber auch durch die Sorge, niemandem zur Last fallen zu wollen." Fachliche Urteile müssten verpflichtend sein, um die Freiwilligkeit beim Sterbewunsch festzustellen und Heilungsmöglichkeiten anzubieten.

"Wir müssen auf unsere Mitmenschen und ihre Gefühle achten und Signale ernst nehmen. Suizid ist keine normale Abgangsform."

Palliativarzt Winfried Hardinghaus

Große Einhelligkeit zumindest bei einem Thema

Die fraktionsübergreifende Gruppe, die das Gesetz zur Sterbehilfe erneut in Angriff nehmen will, kündigte nun an: In den kommenden Wochen werde man den Dialog vorantreiben und Informationsveranstaltungen anbieten.

So kontrovers wohl nun weiter nach Lösungen gerungen wird, bestand bei einem Thema dagegen große Einigkeit: Angenommen wurde im Juli der Antrag zu dem Suizidpräventionsgesetz. Es gab nur eine Nein-Stimme und vier Enthaltungen. "Darüber sind wir erleichtert, wir hatten uns hier als Verband sehr eingesetzt. Es geht um eine breite Aufklärungskampagne und niedrigschwellige Beratungsangebote für Menschen mit Suizidgedanken", erklärt Hardinghaus.

Das Parlament beauftragte die Bundesregierung, bis Ende Juni 2024 einen entsprechenden Entwurf vorzulegen. Etwa könnte ein bundesweiter Präventionsdienst etabliert werden, der Menschen mit Suizidgedanken und Angehörigen rund um die Uhr online und mit einer einheitlichen Telefonnummer Kontakt zu geschulten Ansprechpartnern ermöglicht.

Damit Suizid nicht normal wird, sei nicht nur die Gesellschaft als Ganzes, sondern jeder einzelne gefragt, schließt Hardinghaus: "Wir müssen auf unsere Mitmenschen und ihre Gefühle achten und Signale ernst nehmen. Suizid ist keine normale Abgangsform, wir müssten eigentlich tieftraurig sein, wenn jemand nicht mehr leben möchte."

Wenn Sie oder eine Ihnen nahestehende Person von Suizid-Gedanken betroffen sind, wenden Sie sich bitte an die Telefon-Seelsorge unter der Telefonnummer 0800/1110-111 (Deutschland), 142 (Österreich), 143 (Schweiz).

Über den Gesprächspartner:

  • Prof. Dr. Winfried Hardinghaus ist Facharzt für Innere Medizin und seit Beginn der 1990er-Jahre Palliativmediziner. Er leitet als Chefarzt die Klinik für Palliativmedizin am Franziskus-Krankenhaus Berlin und ist Vorsitzender des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbands (DHPV) e.V. Hardinghaus wurde vielfach geehrt, seit 2016 ist er Träger des Verdienstkreuzes erster Klasse.

Weitere verwendete Quellen:

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