Viele Menschen leiden derzeit in Deutschland an Atemwegserkrankungen. Woran das liegt und warum das Gerede vom "untrainierten Immunsystem" ein Mythos ist – die wichtigsten Fakten.

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Wer selbst noch gesund ist, wird es zumindest im Umfeld beobachten: Husten, Schnupfen, Krankmeldungen - gerade erwischt es viele.

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Stimmt es, dass mehr Menschen als früher in Deutschland erkrankt sind?

Niedrige Temperaturen bringen viele Menschen in Innenräume. Man rückt sprichwörtlich näher zusammen. Die trockene Luft geheizter Innenräume ist ein weiterer Faktor, der Viren bei der Ausbreitung hilft.

Die Zahlen, die das Robert Koch-Institut (RKI) wöchentlich veröffentlicht, belegen es: Die Aktivität akuter Atemwegserkrankungen war in der 46. Kalenderwoche 2023 im Vergleich zur Vorwoche insgesamt gestiegen. Damit litten Mitte November laut Deutschlands oberster Seuchenbehörde rund 7,2 Millionen Personen hierzulande an einer neu aufgetretenen akuten Atemwegserkrankung.

Dabei sind die Werte im Vergleich zur Vorwoche bei den 5– bis 14-jährigen Schulkindern und den 15– bis 59-Jährigen angestiegen, bei den Kleinkindern (0 bis 4 Jahre) und den ab 60-Jährigen gesunken. Die Inzidenz der grippeähnlichen Erkrankungen war im Vergleich zur Vorwoche gesunken, und zwar von 2,1 Prozent auf 1,8 Prozent. (Stand: 28. November. Neuere Zahlen wird das RKI am 29. November bereitstellen).

Sowohl die Inzidenz-Werte der akuten Atemwegserkrankungen als auch die der grippeähnlichen Erkrankungen befinden sich über dem Wertebereich der vorpandemischen Jahre.

  • Zum Vergleich: Während in den Jahren 2011 bis 2019 Mitte November "nur" 5,5 Prozent bis 7,6 Prozent der Bevölkerung erkrankt waren, sind es aktuell 8,7 Prozent.

Welche Viren kursieren aktuell besonders?

Die aktuellen Atemwegserkrankungen sind laut RKI hauptsächlich auf die Zirkulation von SARS-CoV-2 und Rhino-/Enteroviren zurückzuführen.

Außerdem sieht das RKI erste "Anzeichen für eine sich verstärkende RSV-Zirkulation". Das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV) löst bei den meisten Menschen nur eine leichte Erkältung aus, kann bei Säuglingen, Kleinkindern und sehr alten Menschen mit angeschlagenem Immunsystem jedoch zu schweren Krankheiten bis hin zur Lungenentzündung führen.

Eine mögliche Erklärung für den Anstieg von Atemwegserkrankungen hat der Immunologe Carsten Watzl vom Leibniz-Institut für Arbeitsforschung Dortmund (IfADo). "Mit SARS-CoV-2 haben wir einen Erreger zusätzlich, den es vor der Pandemie noch nicht gab. Daher kann es sein, dass in Zukunft die Anzahl der Atemwegserkrankungen oberhalb des vor-Pandemie Niveaus liegen wird", so Watzl.

Wie erhebt das RKI die Zahlen?

  • Die Inzidenzen beruhen auf Angaben von GrippeWeb-Teilnehmenden. Das GrippeWeb ist ein Webportal des RKI, das auf direkten Meldungen der Bürgerinnen und Bürger aufbaut. Alle ab 16 Jahren, die hauptsächlich in Deutschland leben oder die Eltern von jüngeren Kindern können über das Webportal teilnehmen. Die in der 46. Kalenderwoche geschätzten Inzidenzen beruhen auf den Angaben von 6.668 GrippeWeb-Teilnehmenden.

Was haben die Corona-Maßnahmen mit unserem Immunsystem gemacht?

Derzeit diskutieren diese Frage wieder viele Menschen in den sozialen Netzwerken. Besonders häufig steht dabei offenbar im Fokus, ob wir durch das Masketragen nicht mehr genug für Erreger "trainiert" sind. Aber stimmt das überhaupt?

Es gibt keine Immunschuld, betonen Fachleute mit Nachdruck. Unser Immunsystem muss nicht mit Hilfe schwerer Infektionen trainiert werden – es trainiert auch ohne jeden Tag.

Wohl aber sprechen Experten und Expertinnen von einer sogenannten Expositionslücke. Für gewöhnlich bauen wir gegen verschiedene Atemwegserreger nach einer Infektion eine Immunität auf, die uns eine gewisse Zeit lang vor einer erneuten Infektion mit genau diesem Erreger schützt. Diese Immunität ist aber nicht von Dauer, sondern lässt mit der Zeit nach, so dass wir uns nach wenigen Jahren wieder infizieren können, wodurch dann wieder die Immunität aufgebaut wird – eine Boosterung sozusagen.

"Während der Pandemie haben die Hygienemaßnahmen dazu geführt, dass viele Erreger uns gar nicht erreicht haben. Dadurch sind Infektionen, für die man 'fällig' gewesen wäre, aufgeschoben worden. Nach Auslaufen der Maßnahmen hatten wir dann wieder Erregerkontakt, so dass die ausgelassenen Infektionen nachgeholt wurden. Dieser Nachholeffekt bedeutet aber nicht, dass unser Immunsystem während der Pandemie generell geschwächt worden wäre", fasst der Forscher Watzl die Sachlage zusammen.

Dadurch, dass viele Kindergärten und Schulen zu Beginn der Pandemie geschlossen waren, kamen beispielsweise Kinder nicht in Kontakt zu den üblichen Erregern, die ihnen sonst in dieser Lebensphase begegnen. "Wir müssen sehen, ob wir die Werte vom letzten Jahr erreichen, wo diese Nachholeffekte noch stärker waren", sagt Watzl.

Eine weitere Behauptung, die in den sozialen Netzwerken die Runde macht, ist, dass SARS-CoV-2 unser Immunsystem dauerhaft schwächen würde. Doch Corona ist verglichen mit vielen anderen Viren besonders gut erforscht. Dies könnte in der Tendenz also dazu führen, Phänomene im Zusammenhang mit Corona-Infektionen als exklusiv zu interpretieren, obwohl sie bei Infektionen mit anderen Erregern durchaus auch auftreten könnten, schreibt die Pharmazeutische Zeitung.

Ähnlich argumentiert der Immunologe Watzl. "Es gibt viele Untersuchungen dazu, wie das Immunsystem mit SARS-CoV-2 umgeht und ob es dauerhafte Veränderungen gibt, die über die ’normale’ Immunität – also der Bildung von Gedächtniszellen gegen SARS-CoV-2 – hinausgehen. Ein extremes Beispiel wäre das Post-Covid-Syndrom. Aber auch bei normal überstandener Infektion kann man gewisse Veränderungen im Immunsystem beobachten. ABER: Es kann sein, dass dies auch nach anderen Infektionen geschieht, wir aber bei Corona viel genauer nachgesehen haben."

"Nur weil man Veränderungen sieht, muss das noch nicht eine Schwächung des Immunsystems bedeuten."

Immunologin Sheena Cruickshank, Universität Manchester


Dass die Abwehr der meisten Menschen nach der Genesung wieder ins Gleichgewicht findet, betont die britische Immunologin Professor Dr. Sheena Cruickshank von der Universität Manchester auf dem Nachrichtenportal "The Conversation". Selbst bei vulnerablen Patienten und Patientinnen blieben nur bei einem kleinen Teil über sechs Monate nach der Infektion noch einige Veränderungen zurück, so die Forscherin. Das Immunsystem schalte danach wieder auf den Normalbetrieb.

"Nur weil man Veränderungen sieht, muss das noch nicht eine Schwächung des Immunsystems bedeuten. Für mich ist auch noch fraglich, wie lange solche Veränderungen anhalten", ordnet Watzl die These zur angeblichen Dämpfung unserer Abwehr ein. Während das Masernvirus das Immungedächtnis beispielsweise für mehrere Jahre löscht, also Betroffene über Jahre anfälliger für andere Erreger sind, ist das von SARS-CoV-2 bisher nicht bekannt.

Wie wir uns vor Ansteckung schützen können: Abstand, Masken & Co.

Das Robert Koch-Institut empfiehlt folgende Maßnahmen, um sich und andere vor der Ansteckung durch respiratorische Viren zu schützen:

  • Bei Symptomen zu Hause bleiben

Mit einer akuten Atemwegsinfektion sollte jeder bis zur deutlichen Besserung der Symptomatik zu Hause bleiben. In der Regel sind das drei bis fünf Tage.

  • Infektionen behandeln lassen

Wer sich in dieser Zeit nicht besser oder sogar schlechter fühlt oder wer einer Risikogruppe angehört, sollte sich bei seiner Hausarztpraxis melden.

  • Corona-Schnelltests nach Bedarf

Ein Schnelltest hilft dabei, Klarheit über eine mögliche Ansteckung mit dem Coronavirus zu schaffen. Insbesondere empfiehlt sich diese Strategie für alle, die Kontakt zu Personen mit erhöhtem Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben oder die selbst einer Risikogruppe angehören.

  • Lüften und Maske tragen in geschlossenen Räumen

Regelmäßiges Lüften (Stoßlüften) verringert die Übertragungswahrscheinlichkeit. Menschen mit akuten Symptomen sollten eine Maske zum Fremdschutz tragen. Auch zum Wohle der eigenen Gesundheit schützt in Phasen mit starker Viruszirkulation (Grippewelle, Covid-19-Welle, RSV-Erkrankungswelle) ein korrekt getragener Mund-Nase-Schutz in Innenräumen wie zum Beispiel im öffentlichen Nahverkehr, in Arztpraxen und an anderen Orten, wo viele Menschen zusammenkommen.

  • Impfung

Bei den Impfungen gegen Covid-19, Influenza und Pneumokokken sollte jeder gemäß den Stiko-Empfehlungen auf dem Laufenden bleiben.

Das Ziel der Stiko-Impfempfehlungen zu Covid-19 ist weiterhin, schwere Corona-Verläufe mit Hospitalisierungen und Todesfällen zu verhindern; mögliche Langzeitfolgen (Long Covid) von SARS-CoV-2-Infektionen in der gesamten Bevölkerung so weit wie möglich zu reduzieren sowie Beschäftigte in der medizinischen und pflegerischen Versorgung vor Infektionen zu schützen.

Impfungen bieten möglicherweise einen Teilschutz gegen Langzeitfolgen

Fakt ist: Die vorhandenen Corona-Impfstoffe sind für Kinder ab sechs Monaten zugelassen. Während die Ständige Impfkommission (Stiko) die Impfung gegen das Coronavirus – nach Abwägung des Nutzens versus der Risiken – nur bei vorerkrankten Kindern und Jugendlichen unter 18 befürwortet, empfiehlt die amerikanische Gesundheitsbehörde allen Personen ab 6 Monaten die Impfung.

Eltern können auch hierzulande ihre jüngsten Kinder impfen lassen. Impfungen bieten möglicherweise einen Teilschutz gegen Langzeitfolgen (Long Covid, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes), von denen in wesentlich geringerem Maße als Erwachsene auch Kinder und Jugendliche betroffen sein können.

Verwendete Quellen:

Über RiffReporter

  • Dieser Beitrag stammt vom Journalismusportal RiffReporter.
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