- Telegram gilt als Brutstätte von Verschwörungsideologen und Extremisten.
- Doch der Messenger entzieht sich bislang erfolgreich jeder Regulierung.
- Woran liegt das - und wie könnte man das ändern?
Wer ungeimpft ist und trotz 2G-Regel nicht auf die angenehmen Dinge des Lebens verzichten möchte, der kann sich im "Werbekanal für Ungeimpfte" umhören. In der Telegram-Chatgruppe mit rund 4.600 Mitgliedern bieten Selbstständige ihre Dienstleistungen an – zum Beispiel Renata aus Satteldorf, die "Sport für Senioren" betreibt, Angie aus Salem, die veganes kocht ("vom Allerfeinsten") oder Nikula aus Düsseldorf, die Trauerreden in Privatwohnungen hält, wenn Angehörige das Friedhofsgelände nicht betreten dürfen.
Die Gruppe ist eine von Tausenden in Deutschland, in denen sich Menschen tummeln, die die Corona-Regeln ablehnen. In manchen wird lediglich kritisiert, in anderen über Möglichkeiten debattiert, die Regeln zu umgehen und in einigen sogar zu Angriffen auf diejenigen aufgerufen, die sie erlassen. Nicht überall geht es so gesittet zu wie im "Werbekanal", wo von Hass und Hetze wenig zu lesen ist.
Bereits im Januar warnte der Bundesverfassungsschutz davor, dass Corona-Leugner und Anhänger der Querdenker-Szene auf Diensten wie Telegram verstärkt Gruppen bilden, in denen von "Systemsturz" und "Waffengewalt" die Rede ist. In einem internen Lagebericht soll das Bundeskriminalamt (BKA) sogar konkret vor Attacken auf Impfstoffhersteller gewarnt haben, die auf Telegram organisiert würden, so steht es in einer Kleinen Anfrage der Grünen. Seit Journalisten Anfang Dezember in einer Dresdner Telegram-Gruppe Mordpläne gegen den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer aufdeckten, sieht auch die Politik eine neue Dringlichkeit, Telegram stärker in die Pflicht zu nehmen.
Telegram entzieht sich der Strafverfolgung
Dabei ist die Erkenntnis, dass der 2013 in Russland entwickelte Chat-Dienst nicht nur von gesetzestreuen Menschen genutzt wird, sondern zu einem Biotop von Extremisten, Drogenhändlern und Waffenverkäufern geworden ist, bei den Sicherheitsbehörden nicht neu. Die Vermarktung als vermeintlich sicherer Dienst, das technische Design, das die Kommunikation über geschlossene Gruppen erlaubt, genauso wie sogenannte Broadcasts, über die Nachrichten an bis zu 200.000 Menschen geschickt werden können, machen Telegram für Hasskriminalität so attraktiv.
"Der Dienst hat eine hohe Reichweite, bietet die Möglichkeit, wie ein soziales Netzwerk zu kommunizieren und trägt offen zur Schau, nicht mit Behörden zu kommunizieren", sagt Oberstaatsanwalt Markus Hartmann, Leiter der Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime Nordrhein-Westfalen, im Gespräch mit unserer Redaktion. "Dadurch zieht er eine bestimmte Klientel an."
Lange Zeit glaubte die Politik, mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) aus dem Jahr 2018 ein wirksames Instrument gegen Hass und Hetze im Netz gefunden zu haben, wenngleich das Gesetz auf den massiven Widerstand von Datenschützern getroffen war. Es verpflichtet Anbieter wie Facebook, Twitter und YouTube dazu, offensichtlich rechtswidrige Inhalte innerhalb von 24 Stunden nach Eingang einer Beschwerde entfernen oder sperren zu lassen. Außerdem sieht es klare Meldewege vor und zwingt Plattformen, einen Zustellungsbevollmächtigten mit einer Adresse in Deutschland zu nennen, an den sich beispielsweise Gerichte wenden könnten.
Womit damals offenbar niemand rechnete, war, dass sich ein Messenger wie Telegram um die europäische Gesetzgebung nicht scheren könnte. Während Facebook der Hasskriminalität in der Wahrnehmung vieler Experten den (nicht ganz erfolgreichen) Kampf ansagte und Zehntausende Moderatoren anstellte, die Postings auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen, ignoriert Telegram die Behörden, sofern es nicht um Terrorismus geht. Ein Ansprechpartner in Deutschland, wie es das Gesetz vorsieht, taucht auf der Internetseite nicht auf. Ein Impressum gibt es nicht und in der Datenschutzerklärung ist von einer Firma auf den Britischen Jungferninseln die Rede, wohin auch die Registrierdaten von Servern in Europa und Nordamerika führen.
Das Entwicklungsteam um den russischen Gründer Pawel Durow wird indes in Dubai vermutet. Die deutschen Strafverfolger sind deshalb auf Rechtshilfeersuchen mit anderen Ländern angewiesen, was sich in der Realität schwierig gestaltet. "Mit dem Firmensitz in Dubai versucht Telegram, sich vor dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz zu drücken", sagt Matthias C. Kettemann, Internetrechtler an der Universität Innsbruck. "Das Fehlen einer ladefähigen Adresse macht es schwer, selbst behördliche Schriftstücke zuzustellen." So blieben zwei Mahnbescheide des Bundesamts für Justiz mit einem angedrohten Bußgeld von bis zu 55 Millionen Euro bislang unbeantwortet.
Politik will über Apple und Google Druck machen
Die Politik, allen voran Sachsens Ministerpräsident
Telegram wäre in dieser Hinsicht nicht einmal ein Präzedenzfall. Erst im Januar schmissen die beiden großen Digitalkonzerne den amerikanischen Messengerdienst Parler aus ihren Stores, der vermehrt von Rechtsextremisten genutzt worden war und auf dem sich Anhänger des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump zum Sturm auf das Kapitol verabredet hatten.
Anders als Parler, das nur von einer kleinen Szene von Verschwörungstheoretikern genutzt worden war, handelt es sich jedoch nach allem, was man weiß, bei der Mehrzahl der rund 500 Millionen Telegram-Nutzer nicht um Extremisten oder Impfgegner. Dazu kommt, dass der Messenger in vielen Diktaturen die einzige Möglichkeit für Oppositionelle ist, sich untereinander zu vernetzen.
"Was Telegram in Deutschland schwierig macht, nämlich die Unkontrollierbarkeit durch die Regierung, macht es in anderen Staaten so attraktiv", sagt Kettemann. "Während in anderen Staaten Oppositionelle und LGBTQI-Aktivisten vor der Gewalt des Staates geschützt werden müssen und daher auf Telegram kommunizieren, muss in Deutschland die Gesellschaft vor der Gewalt, die auf Telegram geplant ist, geschützt werden." Kettemann hält es für verfassungsrechtlich unmöglich, die Plattform zu verbieten, solange ein überwiegender Teil der Inhalte nicht rechtswidrig ist. Auch Google und Apple haben bislang nicht zu erkennen gegeben, ob sie auf die deutsche Forderung eingehen.
Telegram-Aus? Hass und Hetze würden sich auf andere Teile des Internets verlagern
Vermutlich ist Telegram ohnehin nur das Symptom eines weit größeren Problems: Dass sich Teile der Gesellschaft immer stärker radikalisieren und nicht vor Angriffen und Morden zurückschrecken. Experten wie Staatsanwalt Markus Hartmann warnen deshalb, dass sich Hass und Hetze lediglich in andere Teile des Internets verlagern würden, wenn einzelne Plattformen stärker reguliert oder gar verboten würden. Angebote gibt es mit Plattformen wie zum Beispiel Twicht, das zum weiten Dunkelfeld der Hasskriminalität gehört, genug.
Hartmann setzt deshalb auf eine effektive Strafverfolgung und fordert, die Behörden personell und organisatorisch besser auf die Gefahren im digitalen Raum vorzubereiten. "Die Diskussion um regulatorische Mechanismen darf nicht verdecken, dass im Zentrum der Strafverfolgung die individuelle Tat steht", sagt Hartmann. "Nicht die Plattform als solche ist kriminell - sondern die einzelnen Täter."
Verwendete Quellen:
- Gespräche mit Markus Hartmann und Matthias C. Kettemann
- Deutscher Bundestag – Kleine Anfrage: Schutz der Produktion, Verteilung und Abgabe der COVID-19-Impfstoffe
- Netzpolitik.org – Fällt Telegram wirklich nicht unter das NetzDG?
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.