• Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer wurde bereits beim Schneeschippen vor seinem Privathaus von Querdenkern belästigt. Nun gibt es sogar konkrete Morddrohungen gegen ihn.
  • Im Exklusiv-Interview warnt der CDU-Politiker vor Messengerdiensten wie Telegram und erklärt, warum er sich nicht einschüchtern lässt, sondern stattdessen eine Jetzt-erst-recht-Haltung entwickelt.
  • Außerdem verrät er, welche Lernentwicklung er in der Corona-Pandemie gezwungenermaßen durchmachen musste und warum er wegen der Omikron-Variante auch keinen Lockdown für alle ausschließen will.
Ein Interview

Herr Kretschmer, Sie waren in der Vergangenheit für Ihre Haltung bekannt, man müsse mit allen Menschen reden, um ihnen ihre Vorbehalte zu nehmen. Hat sich das geändert?

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Michael Kretschmer: Nein. Die Feinde der Demokratie, die sich bei Telegram und anderen sozialen Netzwerken verbergen, wollen spalten zwischen "den Bürgern" auf der einen und "dem Staat" auf der anderen Seite. In diese Falle dürfen wir nicht tappen. Wir müssen jetzt erst recht sehr genau differenzieren zwischen Rechtsextremen, die unsere Demokratie zerstören wollen, und Menschen, die Sorgen haben, Kritik äußern oder den Dingen ablehnend gegenüberstehen. Das ist ganz wichtig, ansonsten werden wir einen dauerhaften Schaden in unserem Land erleben.

Aber mit den konkreten Morddrohungen gegen Sie bekommt das Ganze doch eine neue Qualität. Wie erklären Sie sich das?

Ohne Zweifel ist da eine Grenze überschritten worden. Wir haben in den vergangenen Monaten erlebt, wie aus extremistischen Kreisen immer häufiger der Versuch unternommen wurde, den gesellschaftlichen Diskurs zu zerstören. Wann immer ich das Gespräch mit Bürgern gesucht habe, versuchten Extremisten, diesen vernünftigen Austausch zu torpedieren. Das dürfen wir nicht zulassen.

Kretschmer: "Spirale von Hetze, Hass und Falschmeldungen dreht sich immer weiter"

Inwiefern?

Sie sind vor Veranstaltungsräumen aufgezogen, haben Lärm gemacht, die Polizei musste kommen, um die Sicherheit zu gewährleisten. Die Spirale von Hetze, Hass und Falschmeldungen dreht sich immer weiter. Sie darf nicht erst in Gewalt enden. Das schaffen wir nur durch ein entschlossenes, aber immer umsichtiges Handeln des Staates.

Hat angesichts dieser Entwicklung keiner aus Ihrem privaten Umfeld mal gefragt: "Mensch, Michael, warum tust du dir das an?"

In meinem Freundes- und Bekanntenkreis sehen alle, was hier passiert. Es sollen Menschen mundtot gemacht werden, es soll die Möglichkeit genommen werden, sich öffentlich zu artikulieren und für Positionen einzutreten. In einer solchen Situation muss man die Energie entwickeln zu sagen: jetzt erst recht!

Sie haben die neue Bundesregierung um Hilfe gebeten. Warum?

Es braucht ein gemeinsames Verständnis für die Plattform Telegram. Diese versteckt sich hinter der Anmutung eines Nachrichtendienstes, in Wirklichkeit ist es eine soziale Plattform. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Das Gesetz zielt darauf, Hasskriminalität, strafbare Falschnachrichten und andere strafbare Inhalte auf den Plattformen sozialer Netzwerke wirksamer zu bekämpfen, Anm. d. Red.) muss auch bei Telegram angewandt und erweitert werden. Die Demokratie muss wehrhaft sein. Das ist eine Aufgabe der Rechtspolitik in Berlin, die die richtigen Weichen stellen muss.

Was ist Ihr Problem mit Telegram?

Bei über 100.000 Menschen, die sich dort jeweils in Gruppen versammeln und Propaganda, Zersetzung und Demagogie verbreiten und damit staatsgefährdend wirken, müssen deutliche Grenzen aufgezeigt werden. Jetzt ist die Stunde zu handeln.

Wie konkret?

Wir müssen alle rechtlichen Möglichkeiten in Deutschland und Europa ausschöpfen. Wenn sie gemeinsam handelt, hat die Europäische Union alle Möglichkeiten, so wie sie Microsoft oder Facebook auch schon die Grenzen aufgezeigt hat. Das wird sie auch mit diesem Medium schaffen, aber sie muss auch wollen.

Die Menschen, die in Sachsen regelmäßig gegen die Maßnahmen der Regierung protestieren, verletzen häufig die Corona-Regeln. Warum hat die Polizei da bislang nicht härter eingegriffen?

Die Polizei in Deutschland, und eben auch in Sachsen, hat den klaren Auftrag, Recht und Gesetz durchzusetzen. Das tut sie, mit großer Kraftanstrengung, in Sachsen teilweise auch mit Unterstützung aus anderen Bundesländern. Wo Corona-Regeln bei Ansammlungen gebrochen werden, muss sie eingreifen. Es ist mir vollkommen klar, dass das nicht überall gleichzeitig möglich ist. Die Polizistinnen und Polizisten leisten hier eine sehr gute Arbeit.

Sehen Sie in Sachsen eine Verbindung zwischen der Pegida-Bewegung, den Querdenkern beziehungsweise Corona-Leugnern oder -Protestlern und der AfD?

Wir sehen auf jeden Fall, dass die AfD die Geister, die sie rief, nicht mehr loswird. Sie hat diese Bewegungen sehr lange unterstützt, ein Deckmäntelchen drüber geworfen und keine Gelegenheit ausgelassen, durch Aneignung des Vokabulars und der Themen oder durch Teilnahme an deren Demonstrationen in diesen extremen Gruppen zu fischen.

Und jetzt nicht mehr?

Einzelne dieser Gruppierungen werden vom sächsischen Verfassungsschutz beobachtet. Die AfD spürt, dass das am Ende auch für sie selbst gefährlich werden könnte. Deswegen versucht sie, Distanz zu schaffen. Aber im Geist, und auch was die Personen angeht, sind sie sehr nah beisammen. Ihnen geht es nur darum, unsere Art des Zusammenlebens, unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung und deren Institutionen zu zerstören, von der Justiz über die Wissenschaft bis zum Journalismus.

Wie wollen Sie verhindern, dass sich die Proteste bei Einführung einer Impfpflicht noch weiter radikalisieren?

Zunächst mal ist es wichtig, sehr klar und sauber zu argumentieren: Nicht alle, die gegen das Impfen sind, sind Feinde der Demokratie und des Rechtsstaates. Die rechtsextremen Gruppen versuchen, genau diesen Eindruck zu vermitteln, dieses Narrativ zu etablieren – da ist es entscheidend, deutlich entgegenzutreten. Für die Frage, wie wir in den kommenden Monaten, aber auch nach der Pandemie zusammenleben wollen, ist es ganz wichtig, nicht alle über einen Kamm zu scheren, sondern Brücken zu bauen. Am Ende wird eine Gruppe übrigbleiben, die nicht erreichbar ist, aber das wird eine ganz kleine Minderheit sein.

"Leider ist bei der neuen Regierung wenig Umdenken zu spüren"

Die ersten Daten zur neuen Omikron-Variante verheißen wenig Gutes. Reicht das aktuelle Instrumentarium an Corona-Maßnahmen, um die Ausbreitung zu verhindern?

Nein, sie reichen für die Delta-Variante, aber nicht mehr für Omikron. Leider ist bei der neuen Bundesregierung wenig Umdenken zu spüren. Die Möglichkeiten des veränderten Infektionsschutzgesetzes werden nicht ausreichen. Wir brauchen einen großen Instrumentenkasten, sonst wird die Realität den politischen Wunsch überholen.

Was ist die Realität?

Jeder in Deutschland sollte wissen: Es geht jetzt darum, durch unser gemeinsames Verhalten dafür zu sorgen, dass die Krankenhäuser wieder leer werden, um dort auch andere Patienten zu behandeln. Durch die deutlich ansteckendere Omikron-Variante wird sich das alles noch einmal verändern.

Droht durch Omikron vielleicht sogar wieder der Lockdown für alle?

Es ist auf jeden Fall falsch, mögliche Instrumente vom Tisch zu nehmen. In den vergangenen Monaten gab es genügend Wissenschaftler, die versucht haben, mit Sachargumenten zu überzeugen. Das hat bei der Bundesregierung nicht in dem Maße verfangen, wie man es sich gewünscht hätte. Wenn der Weg der Erkenntnis nicht da ist, bleibt nur der Weg der Erfahrung. Das ist aber der teurere Weg. Auch der neuen Koalition ist es bisher nicht gelungen, die Dinge so zu regeln, dass man vorbereitet wäre auf eine mögliche Omikron-Welle. Argumente gegen Maßnahmen, die man heute ausgeschlossen hat, werden dann ganz schnell beiseite geräumt werden.

Hat sich Ihre Einstellung während der Pandemie nicht auch geändert?

Mit Sicherheit. Auch ich habe eine ganze Menge dazu gelernt, etwa die Tatsache, dass wissenschaftlicher Rat in einer solchen Pandemie von ganz zentraler Bedeutung ist. Mediziner und Virologen sollten immer zuerst das Wort haben - und danach wird politisch entschieden. Der Versuch, diesem Virus seinen politischen Willen aufzudrücken, ist in Deutschland mehrmals gescheitert.

Wie wollen Sie in Sachsen den Kampf gegen das Coronavirus gewinnen?

Das können wir nur gemeinsam schaffen. Der bisherige Umgang mit dem Coronavirus hat nicht funktioniert. Wir brauchen mehr Respekt davor, mehr Abstand, mehr Mund- und Nasenschutz und eindeutig mehr Impfungen. Mit unserer geringen Impfquote kann das nicht gelingen. Dabei geht es immer darum, nicht belehrend zu sein, sondern die Menschen, die den gleichen Blick auf die Dinge haben, zu ermutigen, mit ihnen zu sprechen. Und Brücken zu den Menschen zu bauen, die noch eine andere Meinung haben, die vielleicht auch nicht mehr wissen können, was die Wahrheit ist, weil sie über Monate in Netzwerken voller Lügen festhingen.

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