• Die Kölner Karnevalisten haben ihren Rosenmontagsumzug abgesagt – sie wollen lieber für Frieden in der Ukraine demonstrieren.
  • Nach derzeitigem Stand findet der Karneval in Nordrhein-Westfalen mancherorts trotzdem statt.
  • Das Land spendiert 50 Millionen Euro extra. Sind das zu hohe Ausgaben für die Jecken?

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50 Millionen zusätzlich fürs Schunkeln und Kamellen-Werfen – das erscheint manchem Fastnachts-, Karnevals- oder Faschingsskeptiker dann doch ein bisschen übertrieben. Allerdings unterschätzen Nicht-Rheinländer möglicherweise die kulturelle und ökonomische Bedeutung von "Helau" und "Kölle alaaf".

Das Kölner-Institut der deutschen Wirtschaft (IW) etwa wies in einer Pressemeldung auf die enormen wirtschaftlichen Verluste an, die sich aus abgesagten Prunksitzungen und ausbleibendem Folklore-Tourismus in ganz Deutschland ergeben.

COVID-19 überlagere demnach auch in diesem Jahr die Feierlaune, so das IW. Die meisten Karnevalssitzungen und Umzüge seien abgesagt oder fänden "deutlich kleiner statt als üblich". Rückläufiges Interesse am Karnevalsgeschehen illustriert das IW am Suchinteresse bei Google: Die Anfragen nach Karnevalskostümen hätten in der Saison 2022 gerade mal zehn Prozent der normalerweise üblichen Zahlen erreicht.

Unter normalen Bedingungen hätte die Wirtschaft knapp 1,8 Milliarden Euro durch den Karneval eingenommen, "mit Getränken, Hotelübernachtungen und Kostümen". Der Verlust könne sich auf bis zu 1,62 Milliarden Euro summieren.

Der Karneval - Marketinginstrument und Wirtschaftsfaktor

Es gebe genug Gründe, die Karnevalsvereine zu subventionieren, meint Dr. Christian Rusche vom IW: Der Karneval sei zwar vor allem "eine Möglichkeit, dem Alltag für kurze Zeit zu entkommen" – aber gleichzeitig sei er eben auch "ein Marketinginstrument für das Rheinland", ein "sehr guter Botschafter", mit weitreichenden Auswirkungen auf den Tourismus.

"Der Karneval", so Rusche, "ist ein Wirtschaftsfaktor, den man in den Kassen spürt." Die Steuermittel, die das Land einsetze, seien daher "keineswegs rausgeschmissen" – vielmehr würden sie sich als "Investition in die Zukunft" sehr bald wieder auszahlen.

Die rein wirtschaftliche Argumentation mag eingefleischten Karnevalisten allzu trivial erscheinen. Schließlich sind Karneval, Fasching und Fastnacht auch Hobby, Freizeitgestaltung, Gemeinschaftserlebnis und vieles mehr.

Es sei "kein Geheimnis", sagt die Ethnologin und Filmemacherin Anja Dreschke, dass der rheinische Karneval auch ein Wirtschaftsfaktor sei – "der war ja schon im 19. Jahrhundert ein touristisches Phänomen."

Doch das wirtschaftliche Argument greife zu kurz und beziehe sich vor allem auf die großen, medial überrepräsentierten Karnevalsvereine. "Es gibt Karnevalsvereine auch in den kleinen Stadtvierteln und in dörflichen Strukturen", betont sie.

Dort hätten sie eine wichtige Funktion für die "lokale Identität". Auch den Aspekt des generationenübergreifenden Engagements dürfe man nicht vergessen – es sei "erstaunlich, wie viele junge Leute da mitmachen".

5.300 Vereine, 2,6 Millionen Menschen

In der Tat sind unter den im Bund Deutscher Karneval (BDK) organisierten mehr als 2,6 Millionen Menschen 700.000 Jugendliche. Und die wenigsten der 5.300 Fastnachts- und Karnevalsvereine reichen in Mitgliederzahl und wirtschaftlicher Bedeutung an die großen Vereine deutscher Karnevalshochburgen wie die Kölner "Roten Funken" heran.

Das Spektrum der Karnevalsvereine sei "riesig", sagt die Kulturanthropologin Gabriele Dafft, die sich am Bonner LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte mit dem Karneval beschäftigt. Und es seien gerade auch die kleinen Vereinigungen, die den Karneval als kulturelles Erbe lebendig und zeitgemäß hielten. Dazu gehören beispielsweise studentische Vereine – aber auch beruflich tun sich Menschen zusammen, um wie die "Löstige Reechterinne" in Köln, die Ernsthaftigkeit des Alltags während der "jecken Tage" mal beiseitezulassen und ausgelassen zu feiern.

Doch das Feiern ist oftmals gar nicht der wichtigste Inhalt des karnevalistischen Zusammenhalts: "Viele Vereine", weiß Dafft, "spenden ihre Einnahmen an karitative Organisationen und stecken auch privates Geld in ihre Karnevalsaktivitäten." Statt wirtschaftlicher Aspekte gehe es den meisten um die Investition von "ganz viel Herzblut" in Emotionalität und Gemeinschaft: "Gemeinschaftliche Aktivitäten und soziales Engagement stehen auch außerhalb der Karnevalstage im Vordergrund."

Zurzeit decken die Einnahmen nicht die Kosten

Besonders den kleinen Karnevalsvereinen soll daher das Geld der Landesregierung zugutekommen, betont denn auch Nathanael Liminski, Chef der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei: "Wir fördern das karnevalistische Ehrenamt in der Breite, im ganzen Land." Die Frage, ob da etwas subventioniert werde, was gar nicht stattfinde, weil auch in diesem Jahr viele Veranstaltungen ersatzlos dem Corona-Virus zum Opfer fallen, findet Gabriele Dafft falsch gestellt.

Die Vorbereitungen für die "jecken Tage" zögen sich über das ganze Jahr hin, die hohen laufenden Kosten – Dafft nennt als Beispiel die Lagerkosten für große Hallen, in denen die Umzugswagen unterge-bracht werden – müssen schließlich gedeckt werden. Da sind Staatszuschüsse gerne gesehen und dringend nötig.

Auch Christian Rusche vom IW stimmt dem zu. Er rechnet vor, dass die Einnahmeverluste der Vereine deutlich höher seien als die Landeshilfen. Es sei "ein guter Schritt", wenn kleine und mittlere Organisationen unterstützt würden. Karneval zu feiern mache "im Vorfeld viel Arbeit" und bedeute "allemal mehr als fünf Tage im Jahr Helau und Alaaf zu rufen", ergänzt die Anthropologin Dafft.

Zur Zeit der Gespräche mit unserem Portal ahnte allerdings keiner der Beteiligten, dass in diesem Jahr ein viel größeres Problem als das Corona-Virus die Freude am Karneval dämpfen würde – beim Gedanken an die Ukraine dürfte im Jahr 2022 vielen das "Helau" im Hals stecken bleiben.

Unsere Gesprächspartner:

  • Anja Dreschke ist Ethnologin und Filmemacherin. Zum Thema Karneval hat sie die Dokumentation "Die Stämme von Köln" gedreht.
  • Dr. Christian Rusche ist Senior Economist für Industrieökonomik und Wettbewerb beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln.
  • Gabriele Dafft ist Kulturanthropologin am Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte beim Landschaftsverband Rheinland (LVR).
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