Waren die Maßnahmen zur Eindämmung der SARS-CoV-2-Pandemie sinnvoll? Christian Drosten diskutiert im aktuellen NDR-Podcast "Coronavirus-Update" mehrere Studien, die versuchen, diese Frage rückblickend zu beantworten.

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Mehrere Studien versuchen nachzuvollziehen, ob die Eindämmungsmaßnahmen in der Pandemie zielführend waren. Insbesondere die Untersuchung eines Forscherteams aus London, die in der Fachzeitschrift "Nature" veröffentlicht wurde, hat in den letzten Tagen für Schlagzeilen gesorgt.

Darin errechneten die Wissenschaftler anhand der tatsächlichen Todeszahlen unter Berücksichtigung der Bevölkerungsstruktur in unterschiedlichen Ländern, wie viele Menschen die Krankheit das Leben gekostet hätte, wenn dem Verlauf der Pandemie freier Lauf gelassen worden wäre.

Prävention rettet Leben

Ihr mathematisches Modell führt zu beeindruckenden Zahlen: In Deutschland hätte es demnach ohne Intervention 570.000 Corona-Tote gegeben. Zum Zeitpunkt der Untersuchung waren es tatsächlich 7000.

Zum Vergleich: Für Spanien errechneten die britischen Forscher 470.000 mögliche Tote, für England 500.000, für Frankreich 720.000 und für Italien 670.000.

"Das sind aber natürlich hypothetische Werte, die sicherlich so in keinem dieser Länder aufgetreten wären", gibt Drosten zu bedenken. "Denn man hätte ja gemerkt, dass eine Infektionsepidemie im Umlauf ist und auch ganz ohne spezifische politische Entscheidungen hätten die Leute sich natürlich viel vorsichtiger verhalten."

Dennoch sei die Modellierungsstudie aufschlussreich. Eine andere Erkenntnis aus der Untersuchung hebt Drosten besonders hervor. Die Wissenschaftler haben anhand der tatsächlich gemeldeten Todeszahlen auch errechnet, wie viele Menschen sich bereits in der ersten Infektionswelle mit SARS-CoV-2 angesteckt haben müssen.

Niedrige Infektionsrate in Deutschland

Ihre Schätzungszahlen für die Infektionsraten weisen in kleinen Ländern große Unterschiede auf: Sie liegt in Österreich bei 0,7 Prozent, in Norwegen bei 0,4 Prozent, in Dänemark bei 1 Prozent und in Belgien bei 8 Prozent. Als Grund für Unterschiede sieht Drosten den Zeitpunkt, an dem präventive Maßnahmen ergriffen wurden.

Die großen europäischen Länder weisen in der Mehrzahl weniger starke Unterschiede auf: Für Frankreich wird eine Rate von 3,4 Prozent errechnet, für England 5,1 Prozent, für Italien 4,6 Prozent und für Spanien 5,5 Prozent.

Im von der Bevölkerungsstruktur her vergleichbaren Deutschland haben sich den Berechnungen zufolge in der ersten Infektionswelle dagegen lediglich 0,8 Prozent infiziert. Laut Drosten ist das auf die relativ frühe Intervention zurückzuführen.

Was bringt die Maskenpflicht?

Speziell mit dem Tragen einer Mund- und Nasenbedeckung hat sich eine andere Studie beschäftigt. Ein Team von Forschern aus Mainz, Darmstadt, Kassel und dem dänischen Sønderborg untersuchte dafür die Effekte der früh eingeführten Maskenpflicht in Jena.

Dort wurde die Bevölkerung bereits ab dem 6. April im öffentlichen Nahverkehr und beim Einkaufen zum Tragen einer Mund- und Nasenbedeckung verpflichtet. Die meisten anderen Regionen Deutschlands zogen am 27. April nach.

Die Wissenschaftler wollten vergleichen, wie sich der Zeitunterschied bei der Einführung der Maßnahme auswirkt. Da es jedoch keine vergleichbare Stadt gab, deren Infektionszahlen sie für einen Vergleich heranziehen konnten, konstruierten sie ein theoretisches zweites Jena – sie nennen es "synthetisches Jena" – mit später eingeführter Maskenpflicht.

Alltagsmaske richtig auf- und absetzen
© 1&1

Höhere Infektionszahlen im "synthetischen Jena"

Um das hypothetische zweite Jena zu konstruieren, zogen sie Zahlen einer ganzen Gruppe von real existierenden Städten heran, die anhand ihrer Merkmale wie Bevölkerungszahl, Altersstruktur und Infektionsraten anteilig in die Berechnung einflossen.

Das Ergebnis: Im realen Jena gab es am Anfang des Untersuchungszeitpunktes 142 bekannte COVID-19-Fälle. Nach 20 Tagen waren es 158. Das "synthetische Jena" hatte zu Beginn 143 Infizierte und 20 Tage später 205. Das entspricht einer Differenz von 23 Prozent.

Drosten räumt ein, dass es bei der Berechnung eine Auffälligkeit gibt: Der geringere Infektionszuwachs in der Modellstadt war bereits wenige Tage nach der Einführung der Maskenpflicht zu messen.

Sensibilisierung der Bevölkerung bewirkt flachere Kurve

Aufgrund der längeren Inkubations- und Meldezeit kann sich der Effekt in der Realität nicht so schnell niederschlagen. Eine plausible Erklärung lässt sich laut Drosten daraus ableiten, dass die Einführung der Maskenpflicht in Jena bereits Ende März angekündigt wurde.

Das habe zu einem psychologischen Effekt bei der Jenaer Bevölkerung geführt, die sich daraufhin vorsichtiger verhielt. Das habe das Infektionsgeschehen verlangsamt.

Aus den unterschiedlichen Erkenntnissen schlussfolgert Drosten, dass sich bei COVID-19 bevölkerungsweite sanfte Eingriffe stark hemmend auswirken. Die vergleichsweise milden Maßnahmen, die aktuell in Kraft sind, würden dafür sorgen, dass beginnende Infektionsketten immer wieder unterbrochen würden, bevor sie eine größere Ansteckungswelle auslösen könnten.

Professor Dr. Christian Drosten ist Leiter des Instituts für Virologie an der Berliner Charité und einer der führenden Virus-Forscher Deutschlands. In der Coronakrise ist der gebürtige Emsländer ein gefragter Gesprächspartner, regelmäßig gibt er Auskunft zur aktuellen Lage.
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