Der Virologe Christian Drosten hat einen neuen Umgang mit dem Coronavirus vorgeschlagen und sich am Vorbild Japan orientiert. Der japanische Erfolg beruht allerdings nicht nur auf einer besonderen Teststrategie, sondern auch auf Freiwilligkeit.

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Eine Zeit lang schien es, als hätte Deutschland das Schlimmste hinter sich gelassen. Ohne landesweiten Lockdown war es der Bundesregierung und den Ministerpräsidenten gelungen, die täglichen Infektionszahlen in den beinahe zweistelligen Bereich zu drücken, während in unmittelbarer Nachbarschaft die Infektions- und Todesraten trotz harter Lockdowns vierstellig waren. Das Ausland war vom deutschen Wunder verblüfft. Vom "Klassenbesten Europas" sprach das britische Wirtschaftsmagazin "Economist", Bloomberg schrieb: "Akribisch und ordentlich, Deutschland kann mit einer Pandemie fertig werden". Und die "New York Times" resümierte früh: "Der große Gewinner wird wahrscheinlich Deutschland sein".

Doch die Elogen auf den deutschen Weg sind in den letzten Wochen leiser geworden. Mit einem Schwung von Reiserückkehrern, einer neuen Gelassenheit was den Umgang mit Abstandsregeln und Masken betrifft und dem Schulstart in zahlreichen Bundesländern, ist das Coronavirus schlagartig zurückgekehrt. Der R-Faktor als Frühwarnsystem dieser Pandemie weist schon seit Wochen auf ein exponentielles Wachstum hin und statt lokal abgrenzbarer Ausbrüche, wie in der Tönnies-Fleischfabrik, melden mittlerweile fast alle Landkreise wieder neue Infektionen.

Von einem Lockdown ist noch nicht die Rede

Obwohl man auf Regierungsebene das Wort "Lockdown" zurzeit noch nicht in den Mund nehmen mag, ist die Sorge in der Wirtschaft vor ausbleibenden Lockerungen oder - im schlimmsten Fall - neuen Auflagen groß. In einem "Brandbrief" an Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten der Länder warnt die Vereinigung der Mittelständler vor einer "Insolvenzwelle nie gekannten Ausmaßes", wenn Deutschland im Herbst in einen zweiten Lockdown schlittere. Die Autoren sehen die ökonomische Zukunftsfähigkeit Deutschlands in Gefahr, Millionen Arbeits- und Ausbildungsplätze stünden auf dem Spiel.

Die Nachfrage an Vorschlägen, wie sich die schwerste Rezession der Nachkriegsgeschichte nicht noch zusätzlich verschärfen lässt, ist deshalb groß. Eine viel beachtete Idee hat der Virologe Christian Drosten unlängst in Form eines Aufsatzes veröffentlicht. Er hält einen zweiten Lockdown für vermeidbar, wenn die Behörden ihre Teststrategie in Richtung Herbst änderten.

Konkret sieht der Drosten-Plan vor, dass die Gesundheitsbehörden sich auf das Verfolgen sogenannte Quellcluster konzentrieren sollten, statt einzelne Infektionsstränge mit vergleichsweise großem Aufwand nachzuverfolgen. "Die gezielte Eindämmung von Clustern ist wichtiger als das Auffinden von Einzelfällen durch breite Testung", schreibt Drosten bei "Zeit Online". Komme es beispielsweise bei einem Superspreader-Event zu einer Corona-Infektion, müssten alle Menschen, die daran teilgenommen haben, einige Tage isoliert und in Quarantäne geschickt werden, empfiehlt der Virologe. Denn viele könnten hochinfektiös sein, ohne es zu wissen. Jeden Einzelnen zu testen sei zu aufwändig, dafür fehle die Zeit bei den zuständigen Institutionen.

Drosten-Plan stößt auf Zustimmung

Auch der Mediziner Timo Ulrichs, Professor für Globale Gesundheit an der Akkon-Hochschule für Humanwissenschaften, hält den Drosten-Plan für einen gangbaren Weg. "Der Vorteil ist, dass man bei zunehmenden Neuinfiziertenzahlen nicht die Gesundheitsämter und Nachverfolgungsteams überlastet". Man müsse sich jedoch im Klaren sein, dass "einige quantitativ bedeutsame Infektionsketten nicht mehr nachverfolgt werden" können. Die Strategie wäre erst dann klug, wenn die Behörden überlastet seien. Das aktuelle Infektionsgeschehen lasse die breite Nachverfolgung einzelner Infektionsketten aktuell noch zu.

Der Drosten-Plan ähnelt in weiten Teilen einem Modell, mit dem Japan bereits die erste Welle eingedämmt hat. Statt viel und ungezielt zu testen, hatte Japan früh darauf gesetzt, Übertragungscluster zu unterbinden. Das Land hatte beispielsweise offizielle Listen von typischen sozialen Situationen erstellt, in denen Übertragungscluster entstehen und sie öffentlich bekannt gemacht. Die Gesundheitsbehörden suchten in der Kontakthistorie eines erkannten Falls gezielt nach bekannten Clusterrisiken. Auf eine breite Testung wurde, genauso wie auf einen flächendeckenden Lockdown, verzichtet.

Der wirtschaftliche Einbruch in Japan, einem Land das ähnlich wie Deutschland vom Export und einem starken Mittelstand lebt, fiel deutlich milder aus. Schrumpfte das reale Bruttoinlandsprodukt in den ersten sechs Monaten um 8,4 Prozent, waren es in Deutschland rund drei Prozentpunkte mehr. Die Sorgen der privaten Haushalte und die global sinkende Nachfrage bestimmen die Schrumpfung, nicht aber regulierende Blockaden von Unternehmen.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Japan nicht nur eine andere Teststrategie wählte, sondern auch auf sozialen Druck und auf die individuellen Anpassungen seiner Bürger setzte. Dazu gehörte die schon vor Corona verbreitete Einsicht, auch im heißen Sommer Schutzmasken zu tragen. Bewegungsprofile von Google zeigen zudem, dass die Japaner schon im Februar verstärkt zu Hause blieben, als die Regierung noch gar nicht dazu aufgerufen hatte. Die Deutschen folgten stattdessen mehr den staatlichen Vorgaben und Anordnungen.

Verwendete Quellen:

  • Interview mit Timo Ulrichs, Professor für Globale Gesundheit und Entwicklungszusammenarbeit an der Akkon-Hochschule für Humanwissenschaften
  • Statista - Fallzahl des Coronavirus (COVID-19) in Japan seit Januar 2020
  • Täglicher RKI-Lagebericht
  • ZEIT Online - Ein Plan für den Herbst

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