Russland weist nach den USA mittlerweile die meisten bestätigten Corona-Infektion weltweit auf: fast 250.000. Im Gegensatz dazu und im internationalen Vergleich ist die Zahl der an COVID-19 Verstorbenen extrem niedrig. Wie kann das sein?

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Nun hat das Coronavirus auch Wladimir Putins Sprecher erwischt. Am Dienstag vermeldete die staatliche Nachrichtenagentur Ria Nowosti: Dmitri Peskow ist an COVID-19 erkrankt und befindet sich mit seiner Frau Tatjana Nawka unter ärztlicher Beobachtung.

Der enge Vertraute des russischen Präsidenten reiht sich damit in eine immer länger werdende Reihe ein: So wurden bisher schon Premier Michail Mischustin, Bauminister Wladimir Jakuschew und Kulturministerin Olga Ljubimowa positiv auf das Virus getestet.

Nicht nur in der russischen Politik, auch in der Bevölkerung grassiert SARS-CoV-2. Nur in den USA haben sich noch mehr Menschen infiziert. Viele Russen fragen sich, wie die Zahlen trotz viel strengerer Maßnahmen als etwa in Deutschland so massiv steigen konnten.

Die Zahl der offiziell erfassten Infektionen kletterte am Mittwoch abermals um mehr als 10.000 auf 241.271 an. Zugleich verzeichnet das Riesenreich eine der international niedrigsten Sterberaten – laut Statistik gibt es gerade einmal 2212 Todesfälle.

Die im internationalen Vergleich sehr geringe Zahl der Toten lässt Beobachter stutzig werden. Steckt dahinter systematisches Beschönigen?

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Andere Todesursachen auf Sterbeurkunden angegeben

Mediziner erklären die geringe Rate damit, dass auf den Sterbeurkunden andere Todesursachen angegeben würden, nur eindeutige COVID-19-Todesfälle würden als solche ausgewiesen. Für dieses Vorgehen sprechen einige Hinweise.

St. Petersburgs Gouverneur Alexander Beglow sagte etwa, dass seit dem 1. März in der Stadt 694 Menschen an einer Lungenentzündung außerhalb des Krankenhauses gestorben seien. Das berichtet das russische investigative Internet-Medium "The Insider" am Mittwoch. In der offiziellen Statistik tauchen diese Toten nicht auf, St. Petersburg hat bisher insgesamt nur 63 Corona-Verstorbene vermeldet.

Dass die Lungenentzündungen Folgen der Coronavirus-Pandemie sind, liegt aber nahe. Deren Rate war nach Beglows Angaben in der vergangenen Woche über fünfmal höher als im Durchschnitt.

Ähnliches Bild auch in der Hauptstadt: Die kremlkritische Zeitung "Nowaja Gaseta" analysierte für Moskau, dass die Sterberate hier im April mit 11.846 Todesfällen um rund 20 Prozent über dem Durchschnitt der vergangenen Jahre gelegen habe.

Todesursache: Erst Lungenentzündung, später Thrombose

Wer mit dem Virus an einer Lungenentzündung oder an einem Herzinfarkt stirbt, fällt – anders als in anderen Ländern – aus der Statistik heraus.

So war es auch bei Russlands erstem Corona-Todesfall am 19. März. Erst hieß es, eine 79-jährige Frau in Moskau sei an COVID-19 gestorben. Später ruderten die Behörden zurück und betonten, sie sei nicht an einer Lungenentzündung, sondern an einer Thrombose gestorben.

Die Behörden würden die Zahl der Corona-Patienten künstlich kleinhalten, um keine Panik zu erzeugen, sagte Anastasija Wassilijewa von der Gewerkschaft "Allianz der Ärzte" laut "Tagesschau". Die Organisation steht dem Antikorruptionsaktivisten und oppositionellen Politiker Alexej Nawalny nahe.

Die Leiterin der russischen Stelle der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Melita Vujnovic, betont hingegen immer wieder, dass es keine Hinweise auf Manipulationen von Daten bei den Behörden gebe.

Tödliche Brände in Corona-Kliniken

Gleichzeitig fehlen in vielen Krankenhäusern Schutzmasken oder -anzüge. Zuletzt machten zwei tödliche Brände in Corona-Kliniken auf ein weiteres mögliches Problem aufmerksam: die Sicherheit von Beatmungsgeräten.

Ermittler gehen dem Verdacht nach, dass es einen Kurzschluss an den Maschinen gegeben habe – mit den Bränden als Folge. Die Nutzung der Beatmungsgeräte namens "Awenta-M", die überhaupt erst seit dem 1. April hergestellt werden, wurde gestoppt.

In Moskau – der mit Abstand größte russische Corona-Hotspot – gilt seit Dienstag eine Schutzmasken- und Handschuhpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln und in Supermärkten. Menschen über 65 Jahre und mit chronischen Erkrankungen müssen weiter zu Hause bleiben, doch Kontaktverbote wie in Deutschland gab es zu keiner Zeit.

Vor allem über die Maifeiertage trafen sich zuletzt viele Russen zum Grillen und Trinken. Mediziner beklagen einen Mangel an Disziplin bei den Menschen.

Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin schätzte die Zahl der tatsächlich Infizierten in Moskau auf 300.000. Trotzdem ließ er in dieser Woche wieder Hunderttausende Menschen zum Arbeiten auf die Baustellen und in die Industriebetriebe – mit Mundschutz und Handschuhen.

Unterdessen hat das russische Gesundheitsministerium Medizinstudenten zur Arbeit auf Corona-Stationen verpflichtet. Dort fehlt medizinisches Personal. Landesweit sind Hunderte Ärzte und Pfleger selbst infiziert, fast zweihundert sind bereits an der Krankheit gestorben.

Ihre Namen sind auf einer "Liste der Erinnerung" im Internet aufgeführt.

Vielleicht auch für den Fall, dass sie in der offiziellen Statistik nicht auftauchen.

Mit Material von dpa und AFP.
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