- Die Inzidenz in Deutschland sinkt leicht, wie die Zahlen erneut belegen. Wie kommt das?
- GPS-Daten aus einer Studie zeigen, wie Maßnahmen und das Verhalten von Menschen dazu beitragen.
Die Pandemie stagniert in Deutschland. Auch wenn die Sieben-Tage-Inzidenz in einigen Bundesländern weiter steigt: Bundesweit gesehen hat sie einen Gipfel überschritten. Am 29. November verzeichnete das RKI knapp 485 Fälle pro 100.000 Einwohner innerhalb der sieben Tage zuvor, mehr als doppelt so viele Infektionen wie der Höchststand der zweiten Welle im letzten Dezember. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom Montagmorgen lag der Wert bei 389,2. Am Vortag hatte er noch bei 390,9 gelegen, vor einer Woche bei 441,9.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hielt am Montag auf Twitter fest: "Der Rückgang der Fallzahlen ist echt", wobei er gleichzeitig die Notwendigkeit des Boosterns betonte.
Was bedeutet der Rückgang? Stecken sich die Menschen in Deutschland weniger mit der Deltavariante des Coronavirus an? Und wenn ja, woran liegt das? Reichen Maßnahmen wie 2G, um die vierte Welle wirklich zu brechen?
Hohe Dunkelziffer, weil Labore nicht hinterherkommen? Das ist es nicht
Manche zweifelten zuletzt an der Aussagekraft der Inzidenzwerte. Seit Wochen arbeiten die Testlabore an der Grenze ihrer Kapazitäten, in vielen Regionen deutlich darüber. Jede Woche analysieren sie mehr als 1,8 Millionen PCR-Tests, von denen mehr als 20 Prozent positiv ausfallen. Eben diese hohe Positivrate ist ein Hinweis darauf, dass sehr viele Infektionen nicht registriert werden. Da die Labore nun einmal nicht mehr testen können, als ihnen möglich ist, könnte es sein, dass die Pandemie unsichtbar weiter wütet.
Genaueres Hinsehen zeigt jedoch, dass das Infektionsgeschehen tatsächlich nachlässt. Zum einen sind sowohl die Auslastung der Labore als auch die Positivrate in der letzten Woche gegenüber der Vorwoche leicht gesunken. Den Laboren entgehen also weniger Infektionen, was gegen eine unsichtbare Zunahme der Inzidenz spricht. Auch die Zahl der Intensivpatienten stagnierte zuletzt. Dieser Wert gilt als besonders belastbar, da es keine Dunkelziffer gibt. Er hinkt laut einer Analyse des Science Media Center Deutschland der Inzidenz um etwa eine Woche hinterher.
Inzidenz ist immer noch ein guter Indikator
Diese Beobachtungen bestätigen also das Abflachen der Inzidenzkurve. Die oft kritisierte Inzidenz spiegelt demnach das Auf und Ab des tatsächlichen Infektionsgeschehens nach wie vor gut wider.
Allerdings beruhigt sich die Pandemie in Deutschland nur wenig. Der R-Wert liegt noch bei einem hohen Wert von etwa 0,88. Im Mittel stecken also 100 Infizierte 88 Menschen an, womit die Zahl der aktiven Infektionen nur langsam sinkt. Bleibt der R-Wert weiter hoch, wird es Monate dauern, bis die Sieben-Tage-Inzidenz auf einen Wert unter 100 sinkt.
Warum aber sinkt sie überhaupt? Sind es Kontaktbeschränkungen wie in Bayern, wo die Zahlen am stärksten abnehmen? Sind es 2G-Regeln? Oder begrenzt sich die vierte Welle von selbst, weil sie dazu geführt hat, dass sich sehr viele ungeimpfte Menschen durch eine Infektion immunisiert haben?
GPS-Daten ermöglichen aufschlussreiche Beobachtung
Das Virus profitiert von Kontakten zwischen Menschen. Je mehr Menschen sich treffen, desto schneller kann es sich ausbreiten. Die Zahl der Kontakte zu messen, hat sich ein Team um den Physiker Dirk Brockmann an der Humboldt-Universität Berlin zur Aufgabe gemacht. Grundlage sind die GPS-Daten von rund 1,2 Millionen Handys deutscher Bürger (die dieser Nutzung zugestimmt haben). Die Berliner Forscher erhalten nicht die konkreten Bewegungsprofile der Nutzer, sondern nur anonyme Daten über die Zahl der Kontakte.
Damit berechnen die Wissenschaftler zwei Werte:
- die durchschnittliche Zahl von Kontakten pro Person
- ein Maß für die Variabilität dieser Kontakte: Ist es hoch, hat ein Anteil der Menschen sehr viele Kontakte – ein guter Nährboden für Superspreading-Events
Die Auswertung der Zahlen zeigt etwas Interessantes. Seit die vierte Welle rollt, stagniert deutschlandweit die Zahl der Kontakte. Was allerdings seit Anfang November fast kontinuierlich abnimmt, ist die Variabilität der Kontakte. Das lässt sich so erklären: Menschen treffen sich zwar noch im kleineren Kreis, aber sie meiden wieder Orte mit vielen Personen, etwa Büros.
Wir meiden größere Gruppen - der Effekt ist enorm
Auf große Treffen zu verzichten, habe einen "ungleich höheren" Effekt auf die Infektionsdynamik als kleine Treffen zu meiden, sagte Dirk Brockmann kürzlich im Podcast "Coronavirus Update" des NDR.
Ein Beispiel veranschaulicht das:
- Treffen 100 Personen aufeinander, gibt es etwa 10.000 mögliche Wege für das Virus von einer Person zur anderen.
- Treffen sich hingegen 50 Leute, sind es etwa 2.500 mögliche Ansteckungswege.
Es sei daher sinnvoll, die Größe von Veranstaltungen zu begrenzen, erklärte Brockmann, wie es die Bund-Länder-Runde am 2. Dezember beschlossen hat.
Die sinkende Variabilität von Kontakten, die Brockmanns Kontaktmonitor anzeigt, könnte also die Infektionsdynamik bremsen. Allerdings sei die Kontaktvariabilität an den Wochenenden nach wie vor hoch, die Menschen hielten sich dann weniger stark zurück, sagte Brockmann im NDR-Podcast. In Bayern und Sachsen habe sie jedoch zuletzt auch an den Wochenenden abgenommen, erklärte der Physiker. In beiden Ländern gelten seit Wochen strengere Kontaktbeschränkungen. Bayern meldet deutschlandweit den stärksten Rückgang der Inzidenz.
2G bremst die Dynamik wohl auch
Sicher treffen sich viele Menschen wieder vermehrt, weil sie geimpft sind und damit gut geschützt gegen einen schweren Krankheitsverlauf. Der Staat fördert dieses Verhalten durch die sogenannte 2G-Regel, also Zutritt nur für Geimpfte und Genesene. In Bayern etwa gilt 2G in verschiedenen Bereichen seit dem 24. November. Da eine Impfung in gewissem Maß auch gegen die Infektion schützt, dürfte 2G zum Rückgang der Inzidenz beitragen.
Ungeimpfte an 80 bis 90 Prozent der Infektionen beteiligt
Dass die Impfung jedenfalls die Inzidenz symptomatischer Fälle drückt, bestätigte der Bericht des RKI vergangene Woche. Das Institut erfasst den Impfstatus der gemeldeten Fälle und berechnet daraus, wie hoch die Inzidenz unter Geimpften sowie unter Ungeimpften ist:
- Bei Erwachsenen ohne Piks lag die Inzidenz, je nach Altersgruppe, doppelt bis dreimal so hoch wie bei geimpften Erwachsenen.
- Bei Kindern zwischen zwölf und 17 lag sie sogar achtmal so hoch.
Laut Studie des Teams von Dirk Brockmann sind Ungeimpfte an den meisten Infektionen beteiligt, entweder als Ansteckende oder als Angesteckte. Die Arbeit ist noch nicht von Fachkollegen begutachtet. Etwa 40 bis 50 Prozent der Ansteckungen erfolgen demnach zwischen ungeimpften Menschen. Rund 25 bis 30 Prozent der Ansteckungen erfolgen von einem ungeimpften zu einem geimpften Menschen. Zudem werden Ungeimpfte öfter angesteckt als Geimpfte. Insgesamt liefern nicht geimpfte Menschen einen größeren Beitrag zum R-Wert, sie sind an etwa 80 bis 90 Prozent der Infektionen beteiligt.
Die 2G-Regel, so sie denn durchgesetzt wird, bremst also sehr wahrscheinlich das Infektionsgeschehen. Sie bringt es aber nicht zum Erliegen. Das muss sie auch nicht. Damit die Fallzahlen sinken, reicht es, den R-Wert unter den kritischen Wert von eins zu drücken. Sobald man es also dauerhaft schafft, dass ein infizierter Mensch im Schnitt weniger als einen weiteren Menschen ansteckt, wird das Infektionsgeschehen immer weiter gedämpft, bis es nur noch wenige Fälle täglich gibt. Das geht umso schneller, je weiter der R-Wert die eins unterschreitet.
Bremst die vierte Welle von alleine?
Ein weiterer Faktor könnte zum Brechen der vierten Welle beitragen: dass sie sich auf natürliche Weise totläuft. Der Epidemiologe Alexander Kekulé prognostizierte in seinem Podcast "Kekulés Corona Kompass" zu Beginn der vierten Welle, dass diese sich unabhängig von den getroffenen Maßnahmen selbst begrenzen würde.
Die Überlegung dahinter: Da auch jede natürliche Infektion zur Immunität führt, trägt sie maßgeblich zu einer bevölkerungsweiten Immunität bei, sobald sich die meisten ungeimpften Menschen infiziert haben. Irgendwann ist der Punkt erreicht, wo das Virus zu wenige nicht-immune Menschen findet, um sich weiter auszubreiten.
Tatsächlich könnten sich einige deutsche Regionen in der vierten Welle diesem Zustand angenähert haben. "In Bundesländern mit niedriger Impfquote sind in den letzten Wochen deutliche Anteile der Bevölkerung (hoher einstelliger oder niedriger zweistelliger Prozentsatz) durch eine Infektion immunisiert worden", schrieb der Intensivmediziner Christian Karagiannidis zusammen mit einigen Wissenschaftlern jüngst in einer Stellungnahme.
Zum Beispiel in Sachsen. In der vierten Welle haben sich dort nach offiziellen Meldezahlen etwa acht Prozent der Bevölkerung infiziert. Wegen der überlasteten Labore geht das RKI von einer hohen Dunkelziffer aus. Wie hoch diese genau ist, ist derzeit unbekannt. Bundesweit lag sie in den ersten drei Wellen der Pandemie laut RKI etwa um den Faktor 2 bis 5 über den Meldezahlen.
Es ist plausibel anzunehmen, dass sie in der vierten Welle am oberen Rand dieser Schätzung liegt. Demnach könnten sich in Sachsen bis zu 40 Prozent der Bevölkerung infiziert haben. Das entspricht in etwa der Impflücke in dem Bundesland.
Wohl noch hoher Anteil nicht Immuner in der Bevölkerung
Zweierlei spricht aber gegen die Theorie. Erstens infizieren sich auch Geimpfte und tragen deutlich zu den Fallzahlen bei. Längst nicht jede Infektion bringt also neue Immunität in die Bevölkerung. Zweitens müsste es in Sachsen wohl mehr Todesopfer geben. Gemittelt über alle Altersgruppen stirbt etwa ein Prozent der Infizierten – bei fehlendem Impfschutz. Würde sich über eine Million ungeimpfter Sachsen infizieren, würden grob gerechnet 10.000 Todesfälle folgen. In der vierten Welle starben bislang knapp 1.500 Menschen am Coronavirus, also etwa eine Größenordnung weniger.
Es erscheint daher wahrscheinlich, dass in Sachsen weiterhin ein großer Prozentsatz der Bevölkerung dem Virus noch ohne Immunschutz gegenüber steht.
Alles in allem lässt sich das derzeitige Sinken der Inzidenz mit Daten gut belegen. Ob Maßnahmen wie 2G reichen werden, um die riesige vierte Welle zu einem Zwerg zu machen, muss sich zeigen. Laut den Ergebnissen der Gruppe um Dirk Brockmann könnte ein allgemeiner Lockdown vermieden werden, indem man vor allem große Zusammenkünfte vieler Menschen reduziert.
© RiffReporter
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