Hoffnung im Kampf gegen Corona: Weil das Virus Spuren im Abwasser hinterlässt, lassen Laboranalysen Rückschlüsse auf das Infektionsgeschehen zu - und das deutlich früher als Corona-Tests. Eine neue Waffe im Kampf gegen die Pandemie? Professor Herbert Oberacher, Projektleiter eines Pilotprojekts in Tirol, erklärt das System. Auch in Deutschland laufen erste Tests.

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Im Kampf gegen das Coronavirus zählt jeder Tag. Daran hat die bayerische Corona-Testpanne gerade noch einmal aufs Peinlichste erinnert: Weil es Probleme bei der Übermittlung von Testergebnissen gab, wussten zunächst 1.300 von 44.000 Reiserückkehrern noch nicht, dass sie infiziert waren - und konnten das Virus so weiterverbreiten.

Diese Situation macht deutlich: Die Früherkennung des Coronavirus ist eine der wichtigsten Waffen im Kampf gegen die Pandemie. Aktuelle Untersuchungen geben Anlass zur Hoffnung: Erstmals konnten Coronavirusfragmente im Abwasser nachgewiesen werden – und das, ehe Infektionen in der betroffenen Region bekannt wurden.

Abwasser als Frühwarnsystem in der Virusbekämpfung? In einem Tiroler Pilotprojekt soll der Corona-Abwassercheck bald schon im ganzen Bundesland laufen: Aus über 43 Kläranlagen wird Abwasser gesammelt und im Labor auf SARS-CoV-2 untersucht.

Corona-Infizierte hinterlassen Spuren im Abwasser

Das Abwasser, welches unterirdisch durch die Kanalisation fließt, ist seit jeher Spiegel unserer Gesellschaft: Es enthält Spuren von Medikamenten, Drogen und Viren. Dass in Amsterdam zum Beispiel besonders viel Ecstasy und MDMA konsumiert wird und in Zürich viel gekokst wird – das alles verrät das Abwasser in Laboranalysen.

Auch Fragmente des Coronavirus gelangen ins Abwasser - etwa, weil Infizierte sie über den Stuhl ausscheiden. Das Coronavirus ist in dieser Form nicht infektiös, aber nachweisbar, wie das Umweltbundesamt mitteilte. Wissenschaftler machen sich das zunutze, um Rückschlüsse auf die Entwicklung des Infektionsgeschehens zu ziehen.

Virus-Konzentration lässt Rückschlüsse zu

"Die Probennahme erfolgt täglich am Zulauf zu den Kläranlagen mittels bereits vorhandener Probennehmer. Gesammelt werden sogenannte 24-Stunden-Mischproben", erklärt Herbert Oberacher, Professor am Institut für Gerichtsmedizin der Medizinischen Universität Innsbruck das Verfahren. Unter Federführung des Chemikers untersuchen Wissenschaftler seit Mai das Abwasser im gesamten Bundesland Tirol.

"Ein paar hundert Milliliter davon werden zu uns ins Labor zur Analyse geschickt. Dabei werden die im Abwasser vorhandenen Viren isoliert und mittels PCR-Test nachgewiesen", führt der Experte aus. Die Virus-Konzentration lässt dann Rückschlüsse zu: Sind nur vereinzelt Menschen infiziert, oder bereits sehr viele? Steigt oder sinkt die Zahl der Infizierten?

Landesweite Monitorings bis Winter

"Die Abwasserepidemiologie ist eine seit Jahren verwendete Methode, die unter anderem auch zur Überwachung von Viruserkrankungen zum Einsatz kommt", sagt Oberacher. Das wusste auch schon der bayerische Chemiker Max von Pettenkofer, der als erster Hygieniker Deutschlands gilt und bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in München, nach wiederkehrenden Epidemien mit Typhus und Cholera, für saubereres Trinkwasser sorgte.

"Auf SARS-CoV-2 wurde die Methodik erstmals im März von holländischen und amerikanischen Wissenschaftlern angewendet", ergänzt Oberacher. Das Tiroler Forschungsprojekt will bis zum Herbst und Winter die Umsetzung eines tirolweiten Monitorings schaffen.

Tests laufen in München

Inzwischen haben dutzende Länder nachgezogen: In den Niederlanden werden seit Anfang April Proben aus mehr als 300 Kläranlagen entnommen, Schweizer Forscherteams aus Lausanne und Zürich konnten das Coronavirus bereits zu einem frühen Zeitpunkt im Abwasser messen – und das, als in Zürich erst sechs Infektionen bekannt waren.

Auch in Deutschland wird das System getestet. Hier untersucht Jörg E. Drewes, Experte für Siedlungswasserwirtschaft der Technischen Universität München, bereits wöchentlich Proben aus sechs bayerischen Kläranlagen in Weiden, München, Starnberg, Freising, Augsburg und Erlangen.

Frühwarnung bis zu fünf Tage eher

Spezielle Teststationen gibt es dafür nicht, stets erfolgt die Probennahme in den Kläranlagen und die Auswertung im Labor. Wie filigran ist das System? "Wir erhalten ein positives Signal, wenn zehn infizierte Personen unter 100.000 gesunden vorhanden sind“, erklärt Oberacher und macht deutlich: "Die Abwasseranalyse fungiert als Warnsystem."

Das gelte für beide Richtungen – Frühwarnung und Entwarnung. "Beim Frühwarnsystem liefert die Abwasseranalyse ein Signal für die entsprechende Region, noch bevor Fälle durch Symptome und PCR-Tests erkannt werden", erläutert der Experte. So seien Virenfragmente über das Abwasser schon bis zu fünf Tage vor den ersten positiven CoV-Testergebnissen erkennbar.

So entdeckte laut "Bayerischem Rundfunk" (BR) ein niederländisches Forschungsteam um die Mikrobiologin Gertjan Medema das Virus im niederländischen Amersfoort bereits am 5. März. Der erste Corona-Patient wurde in dieser Stadt jedoch erst in der folgenden Woche registriert. "Eine Frühwarnung kann mehrere Tage früher erfolgen, die genaue Anzahl hängt von den Umständen ab", sagt Oberacher. "Beim Entwarnsystem zeigt die Abwasseranalyse, dass tatsächlich keine infizierten Personen im Einzugsgebiet vorhanden sind", beschreibt Oberacher weiter.

Teurer als herkömmliche PCR-Tests

Die Größe des Gebiets spielt dabei eine entscheidende Rolle: "Je größer das Einzugsgebiet, umso schwieriger wird es, kleine Gruppen an Infizierten sicher nachweisen zu können“, gibt auch Oberacher zu Bedenken. In Tirol umfassen die Einzugsgebiete mehr als 5.000 Einwohnerinnen und Einwohnern.

"Die Analyse ist aufwendiger und daher etwas teurer als ein herkömmlicher PCR-Test", sagt Oberacher. Ein einzelner Test kostet laut "Ärzteblatt" derzeit rund 40 Euro. Für das Abwassermonitoring in Tirol stellt das Bundesland laut dem Österreichischen Rundfunk bis zu 40.000 Euro für die Anschaffung von Geräten und Labortechnik zur Verfügung.

Wie kann das System genutzt werden?

Die Forschungen und Studien lassen hoffen, mit der Viruseindämmung beginnen zu können, noch ehe positive Testergebnisse vorliegen. Denn der Abwasser-Check kann auch solche Infizierten erfassen, die keine oder wenig ausgeprägte Symptome zeigen – vielleicht also gar nicht zum Arzt gehen. Dass das Abwasser selbst ein möglicher Corona-Übertragungsweg sein könnte, gilt dagegen als äußerst unwahrscheinlich.

Was bringt also die Abwasseranalyse und ein dadurch mögliches Frühwarnsystem im Kampf gegen Corona? "Wie der Informationsvorsprung genutzt wird, ist Sache der Behörden", stellt Oberacher klar. Dazu zählen beispielsweise Fragen wie: Wo überall soll die Auswertung zum Einsatz kommen? Oder: Wann sollen flächendeckende Testungen in entsprechenden Gebieten vorgenommen werden? Diese Fragen zu beantworten, ist Aufgabe der Politik – und das möglichst schnell.

Über den Experten: Prof. Dr. Herbert Oberacher studierte Chemie an der Universität Innsbruck und forscht am dortigen Institut für Gerichtliche Medizin an Corona-Abwasserchecks. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Entwicklung von neuen Verfahren zur Probenvorbereitung und Trennung von Biomolekülen sowie die computergestützte Interpretation von tandemmassenspektrometrischen Daten.

Verwendete Quellen:

  • "Umweltbundesamt“: Coronaviren und Umwelt – Wie wird das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 übertragen?
  • Tirol.ORF: CoV-Abwassercheck kommt landesweit
  • Ärzteblatt: Kassenkosten für SARS-CoV-2-Tests sinken deutlich
  • Bayerischer Rundfunk (BR): Frühwarnsystem: Was Abwasser über die Corona-Verbreitung verrät
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