Italien, Frankreich und Spanien und viele weitere Länder haben landesweite Ausgangssperren verhängt, um die Coronavirus-Pandemie zu bremsen. Deutschland zögert noch. Wie ist das angesichts der rasant steigenden Zahl von Infizierten zu erklären?

Ein Interview

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Das A-Wort ist seit Tagen in aller Munde. Während sich manche Wissenschaftler vehement für landesweite Ausgangsperren einsetzen, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen, agierte die Politik zögerlich und uneinheitlich.

Nun hat der bayerische Ministerpräsident Markus Söder am Freitag landesweite Ausgangsbeschränkungen verkündet, weitere Bundesländer zogen nach. Am Sonntag diskutiert Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den Länderchefs über das weitere Vorgehen.

Politologe Prof. Thomas Jäger spricht im Interview über das chaotische Vorgehen der Behörden, erklärt, warum die Bevölkerung auf die Einschränkung des öffentlichen Lebens mental völlig unvorbereitet war, und wo die Gefahren solcher Maßnahmen liegen.

Herr Jäger, warum agiert Deutschland bei dem Verhängen von Ausgangssperren im Vergleich zu Ländern wie Italien, Spanien und Frankreich so zögerlich?

Prof. Thomas Jäger: Das hat verschiedene Gründe. Zunächst einmal hat es sehr lange gedauert, bis die Bundesregierung verstanden hat, vor welcher Lage sie da eigentlich steht. Denn Pandemien in den letzten Jahren wie Ebola oder SARS waren weit weg.

So dachte man sich das jetzt wohl auch. Dann sind sukzessive Maßnahmen gegenüber einer mental völlig unvorbereiteten Bevölkerung umgesetzt worden. Als in China das öffentliche Leben still stand, wurde hier Karneval gefeiert und in Ischgl Ski gefahren.

Jetzt kommen Maßnahmen, die teilweise total unverständlich sind. Warum werden Geschäfte geschlossen, aber Frisöre bleiben offen? Den Baumarkt-Tourismus hat man erst später unterbunden. Für die Bevölkerung ist da keine kohärente Strategie zu erkennen.

Was sind weitere Gründe für das wenig rigorose Agieren der Behörden?

Es gibt einfach keine Einigkeit. Erinnern Sie sich an die Schulschließungen: Bayern wollte, Hessen wollte nicht. Als Bayern schon Geschäfte zugemacht hat, waren die in Thüringen noch offen.

Bei den Ausgangssperren ist das genau so. Bayern prescht mit einer Ausgangsbeschränkung voran, aber für Länder wie Berlin scheint das noch weit weg. Da ist einfach eine Uneinigkeit in der politischen Klasse.

Die hat übrigens auch mit dem Rat der Ärzte und Wissenschaftler zu tun. Während einige Virologen Ausgangssperren befürworten, lehnt die Bundesärztekammer das vehement ab. Und es gibt in meinen Augen noch einen weiteren Grund.

Der wäre?

Wenn man jetzt eine Ausgangssperre verhängt, gibt es einige offene Fragen. Wie lange soll das denn dauern? Was ist das Kriterium, sie zu beenden? Wie lange kann man das durchhalten?

Das sind Fragen, die die Regierung beantworten muss, bevor sie zu so einem Instrument greift. Denn es gibt eine ganze Reihe von Menschen, die mit solchen Maßnahmen nicht so gut klar kämen, weil sie krank sind oder alleine leben. Da muss man ein ganzheitliches Bild haben.

Warum schafft es Spanien, wo die Regionen teils autonom sind, trotzdem eine landesweite Ausgangssperre zu verhängen – und Deutschland nicht?

Ich denke, das hat schlicht mit den Fallzahlen zu tun. In Spanien waren die Fallzahlen die ganze Zeit höher als in Deutschland. Spanien ist touristisch sehr mit dem Ausland vernetzt, die touristischen Reisen waren mit der erste Verbreitungsweg für das Virus.

Das hätte man früher unterbinden müssen. Da haben Regierungen versagt. Denn inzwischen sind die Zahlen bei uns ähnlich hoch wie in Spanien.

Deutschland hat Diktaturerfahrung. Kann das ein Grund sein, dass der Staat mit Ausgangssperren und der damit verbundenen Einschränkung der Grundrechte vorsichtig ist?

Das ist natürlich eine prägende Erfahrung. Und eine, die jetzt wieder relevant wird, weil ganz viele Menschen sagen: In einer freien Gesellschaft kann man nicht einfach Ausgangssperren verfügen.

Deswegen wird das ja auch lange vorbereitet, deswegen werden Verhaltensregeln kommuniziert, deswegen hat sich die Bundeskanzlerin in einer Rede extra an die Bevölkerung gewandt. Um dann das Argument führen zu können: Wir machen das nur, wenn sich die Bürger nicht an die Regeln halten. So versucht die Bundesregierung der Bevölkerung die Verantwortung zuzuschieben, um Ausgangssperren zu rechtfertigen.

Wie ist es zu erklären, dass das Bundesgesundheitsministerium noch vor einer Woche Gerüchte nach Ausgangsperren auf Twitter als Fake News abgetan hat?

Ja, Bundesminister Jens Spahn ließ noch vor einer Woche dementieren, was jetzt Realität wird. Entweder war das eine bewusste Täuschung der Öffentlichkeit oder es zeigt einmal mehr deutlich, das für jeden sichtbare Behördenchaos.

Und man kann daran gut sehen, dass der Bundesregierung das Heft des Handelns aus der Hand genommen wurde. Jetzt handeln Bürgermeister und Ministerpräsidenten.

Wo sehen Sie Gefahren, wenn die Bürger ihre eigenen vier Wände nur noch im Ausnahmefall verlassen dürfen?

Die Besorgnis ist nicht zu weit gegriffen, dass sich eine Gesellschaft auch an solche staatlichen Vorgaben gewöhnen kann und das hinnimmt. Und das ist etwas, dass demokratische Parteien auf jeden Fall verhindern müssen.

Einige Epidemiologen fordern schon seit Tagen sofortige Ausgangssperren. Was soll jetzt geschehen?

Das Argument, dass man Sozialkontakte unterbinden muss, um die Verbreitung des Virus einzudämmen, finde ich einleuchtend. Daher kann ich verstehen, dass man temporär gewisse Einschränkungen macht.

Ich kann aber nicht verstehen, dass sie so gemacht werden, wie sie jetzt gemacht werden. Restaurants offen, Geschäfte zu – das ergibt keinen Sinn. Da gab es in Deutschland eine völlig unzureichende Vorbereitung.

Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass es aus staatlicher Sicht nicht nur ein gesundheitspolitisches Interesse gibt, dem alles unterzuordnen ist, sondern auch handfeste wirtschaftliche Interessen. Jede Krise kennt viele Verlierer, aber auch einige Gewinner.

Am Sonntag berät Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den Länderchefs. Haben wir Montag flächendeckende Ausgangssperren?

So weit ich das erkennen kann, wird das wesentlich von der Gestaltung der Fallzahlen abhängig sein. Die Entwicklung in Deutschland ist sehr ungünstig.

Wenn sich die Zahlen verdoppeln, wird der Druck steigen, diese Maßnahmen einzuführen. Es wird aber wohl eher eine Ausgangsbeschränkung nach bayerischem Vorbild sein als eine Ausgangssperre.

Prof. Dr. Thomas Jäger ist seit 1999 Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in internationalen Beziehungen sowie amerikanischer und deutscher Außenpolitik.
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