In Bahnhöfen, am Flughafen, in Ladengeschäften: Genau in diesem Moment beobachten abertausende Kameras in Deutschland die Gesichter und das Verhalten von Millionen Menschen. Was geschieht mit den Daten? Und sind Fälle wie in den USA möglich, wo eine schwangere Frau fälschlicherweise verhaftet wurde, weil Gesichtserkennungs-Technologie sie identifizierte?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Detroit, USA, im Juli 2023: Porcha Woodruff bereitet gerade ihre beiden Töchter für die Schule vor, als sechs Polizisten vor ihrer Haustür stehen und sie verhaften wollen. Der Vorwurf: Raubüberfall und Autodiebstahl. Die 32-Jährige fällt aus allen Wolken, denn sie ist im achten Monat schwanger. "Macht ihr Witze?", fragt sie die Beamten laut "New York Times" (Bezahlinhalt). Doch die Polizisten beharren auf der Festnahme, legen Woodruff Handschellen an und bringen sie zur Vernehmung ins zentrale Gefängnis der Stadt.

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Elf Stunden wird die Kosmetikerin und Krankenpflegeschülerin dort festgehalten, hat zwischendurch Wehen und muss im Anschluss wegen Dehydrierung im Krankenhaus behandelt werden. Erst gegen eine Kaution in Höhe von 100.000 US-Dollar wird sie am Abend freigelassen.

KI sorgte für falsche Verhaftung

Wenige Wochen später die Erkenntnis: Woodruff wurde fälschlicherweise des Verbrechens beschuldigt – weil eine Gesichtserkennungstechnologie sie verwechselt hat. Die Polizei hatte das Gesicht einer Unbekannten in einem automatisierten Verfahren mit einer Datenbank abgeglichen und dabei Woodruff als Täterin ausgemacht.

Es ist nicht der erste Fall einer unrechtmäßigen Festnahme auf Grundlage dieser Technologie. Auch in Deutschland wird die Debatte geführt, welcher Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie sinnvoll ist und wo ihre Grenzen liegen. Im Rahmen der Strafverfolgung kommt Gesichtserkennung bei den deutschen Behörden längst zum Einsatz.

Auch in Deutschland im Einsatz

"Gesichtserkennung ist für uns vor allem relevant bei der Auswertung großer Beweismitteldatenbestände", sagt Markus Hartmann, Leitender Oberstaatsanwalt in Köln und Leiter der Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime in NRW, im Gespräch mit unserer Redaktion. Dabei gehe es hauptsächlich um den Bereich Kindesmissbrauch und Kinderpornographie.

Für die Staatsanwaltschaft ist die Technologie vor allem eine Frage der Effizienz. "Mit dem händischen Prüfen von digitalen Asservaten, die beispielsweise bei Hausdurchsuchungen sichergestellt wurden, wird es angesichts steigender Datenmengen zunehmend schwierig, zeitgerecht fertig zu werden", erklärt Hartmann.

Mittels Gesichtserkennungstechnologie könnten etwa Bilder bekannter Personen mit einem gesicherten Datenbestand abgeglichen werden. "Es geht vor allem darum, relevante Bildbestände in einer riesigen Datenmasse aufzufinden", sagt Hartmann.

Das Wiedererkennen von Gesichtern bei guter technischer Grundlage – hoher Bildauflösung beispielsweise – sei mittlerweile mit hoher Wahrscheinlichkeit möglich. "Selbst in relativ großen Altersgrenzen in verschiedenen Stadien des Erwachsenenalters funktioniert die Bilderkennung noch relativ zuverlässig", erklärt Hartmann.

Abgleich mit erfassten Lichtbildern

Auch die Landeskriminalämter, die Polizei und das Bundeskriminalamt nutzen zur Identifizierung unbekannter Tatverdächtiger ein Gesichtserkennungssystem (GES), und das bereits seit 2008. Bei einer solchen Recherche wird Bildmaterial, etwa Handyaufnahmen von Zeugen oder Aufnahmen einer Überwachungskamera, mit den im Informationssystem der Polizei erfassten Lichtbildern verglichen, erklärt Peer Zabel, Sprecher des Bundeskriminalamtes, gegenüber unserer Redaktion.

Fast 6 Millionen Bilder sind darin gespeichert. 2019 konnten im Rahmen von 54.000 Abfragen rund 2.100 Personen identifiziert werden. Tendenz der Abfragen: steigend.

Die Frontalaufnahmen stammten mehrheitlich aus erkennungsdienstlichen Maßnahmen sowie internationalen Fahndungen, sagt Zabel. Bei der Auswertung müssten rechtliche Grundlagen berücksichtigt werden, die beispielsweise in der Strafprozessordnung oder im Bundeskriminalamtgesetz festgelegt sind. Außerdem stehe am Ende immer noch eine menschliche Einschätzung.

Faktor Mensch im System

Das System erstellt anhand des Ähnlichkeitswerts eine Kandidatenliste. "Diese Liste wird im Anschluss durch entsprechend ausgebildete Mitarbeitende ausgewertet", sagt Zabel. Biometrische Gesichtserkennung werde bislang unterstützend zu Fingerabdrücken eingesetzt und komme dann zum Einsatz, wenn ein Tatverdächtiger anhand eines vorliegenden Bildes identifiziert werden solle. Zabel betont allerdings: "Das BKA nutzt keine Gesichtserkennungssoftware für eine Echtzeit- oder Live-Überwachung von Bürgerinnen und Bürgern."

Für Aufsehen sorgten allerdings zuletzt vor allem Meldungen aus Mannheim und Hamburg. Denn die Hamburger Polizei will mittels einer neuen Software verdächtiges Verhalten an Kriminalitätsschwerpunkten erkennen. Konkret geht es um sogenannte intelligente Videoüberwachung, bei der Videoaufnahmen automatisch ausgewertet werden. Stuft das System eine Situation als verdächtig ein, wird die Polizei alarmiert und entscheidet über das weitere Vorgehen.

Verhaltensanalyse via Kamera

Laut "Bericht von "netzpolitik.org" handelt es sich dabei um Liegen, Fallen, Taumeln, Treten, Schlagen, Schubsen, Anrempeln sowie eine aggressive und defensive Körperhaltung. Es sei allerdings nicht geplant, Menschen durch Gesichtserkennung automatisch zu identifizieren.

Das Ziel läge nicht in der Verfolgung Tatverdächtiger, sondern in der frühzeitigen Erkennung von Gefahrensituationen. Hamburg ist nach Mannheim die zweite Stadt, in der die Polizei eine solche Verhaltenserkennung testet. 2020 sprach Polizeipräsident Andreas Stenger von einer Fehlerquote im niedrigen zweistelligen Bereich. Handelt es sich um eine Umarmung oder um einen Angriff? Das System kann das nicht immer zuverlässig unterscheiden.

Autofahrer mit Handy aufspüren

Rechtliche Voraussetzung für eine solche Überwachung ist in der Regel, dass die Polizei tatsächlich eingreifen kann – etwa, weil sie die Aufnahmen dauerhaft in der Leitstelle beobachtet und Streifen vorbeischicken kann. Außerdem müssen sensible Bereiche, wie private Hauseingänge, per Voreinstellung auf den Aufnahmen unkenntlich gemacht werden.

In Rheinland-Pfalz kommt KI laut "netzpolitik.org" bei einem Pilotprojekt zum Einsatz, in dessen Rahmen Autofahrer mit Smartphone aufgespürt werden sollen. Dazu wird von Brücken in fahrende Autos hineingefilmt.

Der Test von Gesichtserkennungssoftware am Berliner Bahnhof Südkreuz wurde inzwischen beendet. Fazit aus Sicht des Innenministeriums: Das System hat sich bewährt, die Technik soll nun häufiger eingesetzt werden.

Steigender Konformitätsdruck befürchtet

Das Pilotprojekt war eins der umstrittensten deutschen Überwachungsprojekte. Immer wieder betonen Datenschutzexperten, dass Videoüberwachung einen tiefen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung darstellt, weil ununterbrochen auch das legale Verhalten aufgezeichnet wird. Die Befürchtungen: Steigender Konformitätsdruck aus Angst vor Fehlern der Technik und ein Verlust von Anonymität im öffentlichen Raum.

"Wir müssen immer auf beide Seiten der Medaille schauen: Auf die Ermittlungsmöglichkeiten einerseits und die Grundrechte, in die eingegriffen wird, andererseits", sagt auch Staatsanwalt Hartmann. Vor dem Einsatz jeder technischen Maßnahme müssten umfangreiche rechtliche Gedanken in jede Richtung erfolgen. "Wir setzen auch technisch mögliche Mittel nicht ein, wenn wir bei der rechtlichen Prüfung zu dem Schluss kommen, dass es nicht zulässig wäre", berichtet er aus der Praxis.

Das Szenario einer Komplett-Überwachung sei durchaus im Bereich des technisch machbaren. Dass es droht, glaubt Hartmann dennoch nicht. "Das wäre nicht mit der deutschen Rechtsordnung vereinbar. Es gibt keine Strafverfolgung um jeden Preis", sagt er. Eine flächendeckende Gesichtserkennung in Deutschland erscheine daher nicht realistisch.

Zur Person: Markus Hartmann ist Leitender Oberstaatsanwalt in Köln und Leiter der Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime (ZAC) in NRW.

Verwendete Quellen:

  • Anfrage an das Bundeskriminalamt
  • Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit: Videoüberwachung
  • spiegel.de: Umstrittene Gesichtserkennung soll ausgeweitet werden
  • netzpolitik.org: Polizei setzt ohne Rechtsgrundlage Handy-Blitzer ein, die allen ins Auto filmen und das auswerten
  • netzpolitik.org: Polizei Hamburg will ab Juli Verhalten automatisch scannen
  • netzpolitik.org: Deutlich mehr Gesichtserkennung bei Bundespolizei und Kriminalämtern
  • nytimes.com: Facial recognition false arrest (Bezahlinhalt)
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