Noch ist nicht Halbzeit. Der nächste Präsident Brasiliens, des größten Landes in Südamerika, wird erst im Herbst 2022 gewählt. Nach anderthalb Jahren Amtszeit von Jair Bolsonaro dürfte aber klar sein, wohin die Reise Brasiliens in den nächsten Jahren gehen wird. Und die Aussichten für die mehr als 220 Millionen Einwohner sind alles andere als rosig.
Die Problemfelder für Brasiliens Präsidenten sind riesig. Die Bilder von ausgedehnten Waldbränden, die im Juli und August 2019 um die Welt gingen, sind noch sehr präsent. Und die Waldvernichtung geht weiter. In der Amazonasregion haben unter Jair Bolsonaro die illegalen Abholzungen Ausmaße angenommen, die seit mehr als zehn Jahren nicht mehr zu verzeichnen waren.
Für den gerade vergangenen Juni meldete die Weltraum- und Forschungsbehörde (INPE) eine Zunahme der Waldbrände von 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. An rund 2250 Stellen stand im vergangenen Monat der Urwald in Flammen. Von Januar bis Mai rodeten Landgreifer rund 2000 Quadratkilometer. Das ist fast die Fläche Luxemburgs.
Bolsonaro hat Coronavirus verharmlost
Zudem hat das Coronavirus Brasilien hart getroffen. Allein am 1. Juli vermeldete die Regierung in Brasilia mehr als 1200 Todesfälle. Insgesamt fielen in Brasilien bislang mehr als 61.000 Menschen dem Virus zum Opfer – offiziell wohlgemerkt.
Da wenig getestet wird, werden tatsächliche Zahlen angenommen, die sieben- bis zehnmal so hoch sein könnten. Eine Mitschuld an dem Ausmaß trägt sicherlich der Präsident selbst. Er und seine Delegation schleppten zum einen das Virus Ende Februar von einer USA-Reise ein. Damals waren mehr als 20 Mitreisende positiv getestet worden.
Doch vor allem seine Verharmlosung des Virus – der ja nur eine kleine Grippe, eine "gripezinha" sei – und die damit verbundene Forderung nach Öffnung der Wirtschaft konterkarierte die Bemühungen der Gouverneure der Bundesstaaten und der Weltgesundheitsbehörde WHO. Chaos in der politischen Führung mit zwei entlassenen oder zurückgetretenen Gesundheitsministern taten ihr Übriges. Inzwischen breitet sich der Covid-Erreger dermaßen rasant aus, dass er kaum mehr zu stoppen sein dürfte. Die Zahl der Todesopfer wird weiter in die Höhe schnellen.
Ermittlungen gegen Bolsonaros Söhne Flávio und Carlos
Hinzu kommen innenpolitische Unruhen. Das Verhältnis zur Justiz ist sehr angespannt, nicht zuletzt, weil der Oberste Bundesgerichtshof (STF) gegen die Söhne des Präsidenten ermittelt. Der älteste Sohn Flávio, langjähriger Stadtrat in Rio de Janeiro soll mit öffentlichem Geld dubiose Zahlungen an Vertreter der kriminellen Miliz getätigt haben.
Das Verfahren nahm vor wenigen Tagen wieder Fahrt auf, nachdem die Bundespolizei PF den Ex-Polizisten Fabrício Queiroz verhaftet hat. Er war flüchtig gewesen und hatte offenbar ein Jahr lang in der Wohnung eines befreundeten Anwalts gewohnt. Queiroz ist ein enger Freund der Familie und gilt als Verbindungsmann zur Miliz "Büro des Todes".
Der Zweitgeborene Sohn Carlos war ebenfalls im Rahmen einer großangelegten Razzia in das Visier der Ermittler geraten. Vor wenigen Tagen hatte es eine große Razzia gegen die gezielte Verbreitung von Falschinformationen und Fake News gegeben.
In rund 30 Orten schlug die Polizei zu, beschlagnahmte Akten und Rechner. Carlos war bereits im Wahlkampf für die Social-Media-Kanäle seines Vaters verantwortlich, auf denen Lügen und Verleumdungen über Gegenkandidaten und politische Gegner verbreitet wurden.
Justizminister Sérgio Moro trat zurück
Diese Konfliktherde mit dem Gesetz waren wohl auch der Auslöser dafür, dass inmitten der Corona-Pandemie der Justizminister Sérgio Moro das Handtuch warf. Der behauptete, der Präsident höchstselbst habe einen Wechsel an der Spitze der Bundespolizei gefordert, um seine Söhne aus der Schusslinie zu nehmen. Für Moro war dieser Durchgriff des Präsidenten in sein Ressort zu viel.
Mit Sérgio Moro trat einer der beiden Superminister spektakulär zurück. Ihn hatte Bolsonaro in sein Kabinett gelotst, um seinem Wahlversprechen, mit der Korruption in der Politik und im ganzen Land aufräumen zu wollen, ein Gesicht zu geben. Moro war oberster Ermittlungsrichter im Korruptionsprozess Lava Jato gewesen. Dieser hatte in Brasilien in den vergangenen fünf Jahren für ein veritables politisches Erdbeben gesorgt und etlichen Politikern bis hin zu Gouverneuren und Ministern den Job gekostet.
Mit dem Ausscheiden Moros aus der Regierung verabschiedete sich die Regierung Bolsonaros wohl auch aus dem Kampf gegen Gewalt und Korruption. Um politisch überleben zu können, musste Bolsonaro anschließend um die Gunst der Zentrumsparteien buhlen.
Ausgerechnet jene, die er stets als besonders korrupt gebrandmarkt hatte. Mit diesen Stimmen könnte ihm zumindest ein Amtsenthebungsverfahren zunächst einmal nichts anhaben. Um dieses zu starten, braucht es eine Zweidrittelmehrheit.
Um abzulenken und die Gefolgschaft zu mobilisieren, provoziert Bolsonaro die Justiz. Immer wieder lässt er sich bei Demonstrationen, die sich gegen die staatlichen Institutionen richten, blicken und gibt so den Menschen das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein und die Feinde im Kongress und der Justiz zu sehen.
So schürt er gezielt den Unfrieden und lenkt von anderen Fehlleistungen ab. Dieser Konflikt könnte sich in den kommenden Monaten hochschaukeln. Man denke nur: Was würde passieren, würde einer der beiden Söhne tatsächlich verurteilt? Würde Bolsonaro die Entscheidung akzeptieren? Wo er doch die Ermittlungen grundsätzlich als politisch motiviert abtut.
Neun Minister mussten in Bolsonaros Amtszeit gehen
Moros Abgang war nicht der einzige. Insgesamt neun Minister mussten in den letzten 18 Monaten ihren Stuhl räumen – Kulturstaatssekretäre gar nicht eingerechnet. Moros Aus symbolisierte einen Wendepunkt. Inzwischen sucht Bolsonaro den vierten Bildungs- und den dritten Gesundheitsminister.
Unterstützung erhält er vor allem aus den Lagern der klassischen BBB-Bancada. Bancadas, das sind überparteiliche Interessengruppen in Parlament und Senat. Die drei B stehen für "boi, bala, biblia", für Rinder, Gewehrkugeln, Bibel. Gemeint sind die evangelikalen Kirchen, die Landbesitzer und die Waffenlobbyisten.
Vertreter jener Lobbygruppen finden sich auch in Bolsonaros Regierungsmannschaft wieder. Den größten Machtteil beansprucht das Militär für sich. Neun Ex-Generäle stehen in Bolsonaros Mannschaft, bekamen für sie wichtige Ressorts wie Infrastruktur, Verteidigung oder nationale Sicherheit zugewiesen.
Mit Damares Alves ist eine evangelikale Predigerin Ministerin für Familie und Menschenrechte. Tereza Cristina Corrêa da Costa Dias war Chemielobbyistin, ehe sie das Landwirtschaftsressort übernahm. Und Umweltminister Ricardo Sallas war bei vorherigen Jobs durch Verstöße gegen Umweltgesetze aufgefallen.
WWF bezeichnet Salles als Umweltzerstörungsminister
Zuletzt hatte eine seiner Aussagen für großen Wirbel gesorgt. Richter hatten angeordnet, den Mitschnitt einer Kabinettssitzung öffentlich auszustrahlen. Eigentlich, um Bolsonaros Einflussnahme zugunsten seiner Söhne zu belegen.
Das "Highlight" gebührte aber Salles, als er sagte, die Regierung solle doch die Verwirrung um die Covid-Krise nutzen, um Umweltgesetze und –standards zu lockern. Die Umweltschutzorganisation WWF sprach daraufhin vom Umweltzerstörungsminister.
Bolsonaros Regierungsprogramm erstreckt sich auf den Kampf gegen den politischen Gegner. Seien es linke Parteien oder Journalisten der großen Medien – die er immer wieder beschimpft und zu diskreditieren versucht.
Bolsonaro steht unter Druck. Er hat Brasilien in einer Krisensituation übernommen. Damals war die Krise vor allem eine wirtschaftliche. Er weiß, dass man ihn 2022 daran messen wird, wie sich die wirtschaftliche Situation in Brasilien darstellen wird.
Einige Erfolge hatte er inzwischen auch zu verzeichnen. Tatsächlich ist es ihm gelungen, den aufgeblähten Regierungsstab in Brasilia etwas zu entschlacken. Gab es unter Vorgänger Temer noch 39 Ministerien, sind es heute nur noch 23.
Eher unfreiwillig ist der Erfolg, dass nach 20 Jahren Verhandlungen ein grundlegendes Freihandelsabkommen zwischen dem Staatenbund Mercosul und der EU entstanden ist. Das Ende der Verhandlungen fiel durch Zufall in Bolsonaros Amtszeit.
Der Präsident selbst machte deutlich, dass er von dem Abkommen wenig halte. Bis es in Kraft tritt wird ohnehin noch eine Menge Zeit vergehen. Österreich und die Niederlande haben bisher eine Ratifizierung aus Protest gegen die Regenwaldvernichtung im Amazonas abgelehnt.
Brasilien ist international isoliert
Aber auch darüber hinaus steht Brasilien international isoliert wie lange nicht da. Und der Druck wächst weiter: Ein milliardenschweres Investorenkonglomerat kündigte jüngst an, Investitionen in Brasilien zu stoppen, sollte die Regierung an ihrer Abholzungspolitik festhalten. Konnte Bolsonaro politische Kritik bislang erfolgreich ignorieren, sollte er doch spätestens wenn es ums Geld geht ans Nachdenken kommen.
Auch die kürzlich vollzogene Eröffnung der Nord-Achse der Umleitung des Flusses Rio Sao Francisco war für Bolsonaro eher ein Zufallsprodukt. Schon 2005 hatte Vor-Vor-Vorgänger Luíz Inácio Lula da Silva mit dem gewaltigen Infrastrukturprojekt begonnen, das Wasser des Flusses Sao Francisco über mehr als 470 Kilometer Länge in den trockenen Nordosten Brasiliens umleiten soll.
Das Projekt ist umweltpolitisch höchst umstritten. Es gibt noch eine ganze Reihe weiterer Infrastrukturprojekte, viele davon unter Lulas PF-Regierung begonnen, nicht selten unter Zahlung üppiger Schmiergelder der großen Baufirmen.
Reformen ohne stabile Mehrheit kaum möglich
Mit der Rentenreform packte Bolsonaro tatsächlich eines der drängendsten Probleme Brasiliens an. Die Personal- und Pensionskosten verschlingen gewaltige Summen, lassen wenig Spielraum für Investitionen.
Zudem gibt es in Brasilien einen großen Bevölkerungsanteil einfacher und informeller Arbeiter, die so gut wie keine Steuern oder Sozialabgaben zahlen. Ein entscheidender Grund, weshalb die Kassen chronisch klamm sind. Eine Reform war längst überfällig.
Ein Reförmchen ist es letztlich aber nur geworden. Da er im Parlament lange über keine stabile Mehrheit verfügte, hatte Bolsonaro keine politische Kraft Reformen gegen die unterschiedlichen Interessensgruppen durchzuboxen.
Andere notwendige Reformen, etwa eine Reform des Steuerrechts oder des Arbeitsrechts täten der Wirtschaft sicher gut, sind aber bislang nicht angedacht. Die Lage bleibt unruhig, Investoren sind zunehmend verunsichert.
Philipp Schiemer, Chef von Mercedes Brasilien sieht in einem Interview mit dem Handelsblatt einen Glaubwürdigkeitsverlust der Regierung. "Die Regierung verausgabt sich auf Nebenkriegsschauplätzen, anstatt Reformen voranzutreiben", sagte er dem Blatt.
Verwendete Quellen:
- Epoca: Bericht mit Daten der Inpe zur Abholzung Amazonas
- Otempo: Em um ano e meio de governo Bolsonaro, ocorreram trocas em 9 das 23 pastas
- Aprovinciadopara: Governo Bolsonaro completa 1 ano e meio no poder: Relembre o que já foi feito
- Coronavirus Brasil: Aktuelle Covid-Zahlen Brasilien
- The Guardian: Investoren aufgeschreckt durch Abholzung am Amazonas
- Handelsblatt: Leiter Mercedes Brasilien zur Lage
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