Der rechtsextreme "Flügel“ in der AfD hat am Samstag seine Auflösung beschlossen. Im Interview mit unserer Redaktion erklärt der Parteienforscher Oskar Niedermayer, wieso die Auflösung der AfD gefährlich werden könnte, ob Björn Höckes Karriere beschädigt ist und weshalb die Partei ein Opfer von Corona ist.

Ein Interview

Am Samstag hat der als rechtsextrem eingestufte "Flügel“ in der AfD seine Selbstauflösung beschlossen. Ist das ein Sieg der Realos rund um AfD-Chef Jörg Meuthen über die Rechtsextremen in der Partei?

Oskar Niedermayer: Nein, denn ein Sieg hätte bedeutet, dass die Hauptprotagonisten des Flügels, also Björn Höcke und Andreas Kalbitz, ihre Ämter verlieren, wie es manche Landesverbände gefordert haben. Aber das ist nicht passiert.

Allein die formale Auflösung des "Flügels" ändert nicht viel. Die Mitglieder sind ja immer noch in der Partei und ändern nicht plötzlich ihre Einstellungen, zudem behalten wichtige Führungspersönlichkeiten ihre Ämter.

Der "Flügel" war von Anfang an nur ein informeller Zusammenschluss von AfD-Mitgliedern. Deshalb ist es kaum mehr als eine Äußerlichkeit, dass sich ihre Mitglieder nun nicht mehr unter diesem Namen treffen dürfen.

Der "Flügel" hat angekündigt, sämtliche Aktivitäten herunterzufahren. Eine Facebook-Seite wurde inzwischen gelöscht. Ist der "Flügel" nun wirklich verschwunden?

Nein, der "Flügel" wird nur weniger abgrenzbar zur Gesamtpartei. Die Mitglieder, aus denen sich der "Flügel" zusammengesetzt hat, werden die AfD ja nicht in großer Zahl verlassen. Sie werden sich auch ohne den institutionellen Zusammenschluss den radikalen Positionen des "Flügels" zugehörig fühlen.

Björn Höcke hat deutlich gemacht, dass der "Flügel" seine politische Arbeit fortsetzen will. Solange Flügel-Mitglieder wichtige Ämter wie Fraktions- oder Landesvorsitze in der Partei bekleiden, wird sich dieses Versprechen einlösen. Das Problem der AfD mit dem "Flügel" ist gestern nicht gelöst worden.

In Thüringen versucht Höcke sein Image als Rechtsextremer loszuwerden, nach der Thüringen-Wahl hat er sich fast schon als Staatsmann inszeniert. Welchen Einfluss hat das Ende des "Flügels" auf seine Karriere?

Björn Höcke wurde an diesem Wochenende nicht geschwächt, er behält seine strategische Position in der Partei. Allein die schwache Reaktion des AfD-Vorstands zeigt ja, welche Stärke die Führungsleute des "Flügels" weiterhin in der Partei haben.

Deshalb sehe ich auch nicht, dass sich an der Machtposition Höckes in nächster Zeit etwas ändern könnte. Es gibt Stimmen, die sagen, dass Höcke und Kalbitz die AfD verlassen und ihre eigene Partei gründen. Das sehe ich nicht. Sie würden damit ihr politisches Ende einläuten.

Rückt nach dem Ende des "Flügels" eine Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz in weite Ferne?

Die Selbstauflösung bedeutet erst einmal konkret, dass Mailinglisten oder offizielle Treffen unter dem Namen des "Flügels" nicht mehr möglich sind. Damit fehlen dem Verfassungsschutz wichtige Ankerstrukturen, an denen er sich bisher orientieren konnte.

Das könnte nun auf die AfD zurückfallen. Denn mit der Selbstauflösung wird auch die Abgrenzung zwischen dem "Flügel" und der Gesamtpartei komplizierter. Im für die AfD-Spitze schlimmsten Fall könnte es passieren, dass die Indizien für rechtsextremistische Bestrebungen nicht mehr dem "Flügel" zugeordnet werden können, weil dieser schlichtweg nicht mehr abgrenzbar ist.

Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die gesamte AfD zum Beobachtungsobjekt wird. Das wäre ein Desaster für die Parteiführung.

Denn das Ende des "Flügels" war ja mit dem Ziel verbunden, aus dem Fokus des Verfassungsschutzes zu verschwinden. Dass dieses Ziel aber nur halbherzig verfolgt worden ist, könnte sich zum Bumerang entwickeln.

Seit einigen Wochen entwickeln sich die Umfragewerte der AfD massiv zurück. Ist die Partei ein Opfer des Coronavirus?

Diese Krise wird zunehmend gefährlich für die Partei. Es gab in den letzten Wochen Stimmen, die meinten, dass die AfD profitieren könne, wenn sich Deutschland wegen Corona abschottet.

Für mich macht das keinen Sinn. Der Markenkern der AfD sind nach wie vor die Migration und der Islam. Diese Themen haben die öffentliche Meinung in Deutschland jahrelange dominiert und wurden zuletzt von der Klimafrage abgelöst. Nun überlagert Corona alles. Damit rückt der Markenkern der AfD in der öffentlichen Diskussion weit in den Hintergrund. Für eine Partei wie die AfD ist das extrem gefährlich, für die Grünen übrigens auch.

Die CDU scheint hingegen ein Gegenmittel gefunden zu haben. In den Umfragen geht es seit Corona aufwärts für die Union.

In Krisenzeiten versammeln sich die Menschen hinter den Regierungsparteien. Sie können handeln, während die Opposition zuschaut. Dass die Umfragewerte der Union steigen und jene von AfD und Grünen sinken, ist deshalb eine normale Krisensituation.

Aber dabei muss es nicht bleiben. Mit Corona sind extreme Einschränkungen für die Bevölkerung verbunden. Je länger diese Krise andauert, desto wahrscheinlicher wird es, dass die Stimmung in Deutschland umschlägt. Dann könnten die Menschen anfangen gegen diejenigen zu rebellieren, die ihnen diese Einschränkungen auferlegen.

Oskar Niedermayer ist Politikwissenschaftler und emeritierter Professor an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich unter anderem mit politischen Einstellungen und Wahlforschung und ist einer der führenden Parteienforscher in Deutschland.
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